Die Halbgötter sind müde

Ärztekammer schlägt Alarm: Bei knapp 90 Prozent der in Krankenhäusern beschäftigten jungen Medizinern werde das Arbeits- und Tarifrecht verletzt. Viele arbeiteten drei Schichten hintereinander

von BENJAMIN DIERKS

Junge Ärzte werden in Berliner Krankenhäusern unter gravierender Verletzung des Arbeits- und Tarifrechts beschäftigt. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Ärztekammer Berlin zur Arbeitsbelastung junger Mediziner in der Hauptstadt. Über zwei Drittel der befragten Ärzte arbeiten länger als 44 Stunden pro Woche. Besonders betroffen ist, wer nach dem zweiten Staatsexamen sein 18-monatiges Praktikum (AiP) absolviert. Gezählt wurden hier aber nur die regulären Schichtdienste, über die Hälfte der Befragten leisten zudem bis zu sechs Bereitschaftsdienste im Monat, elf Prozent sogar mehr als sechs. „Keine andere Branche würde eine derartige dauerhafte Ausnutzung der Arbeitnehmer tolerieren“, sagte gestern Günther Jonitz, Präsident der Ärztekammer Berlin, bei der Vorstellung der Studie.

Bereitschaftsdienste gelten nach dem Arbeitszeitgesetz, das seit 1996 auch für Beschäftigte in Krankenhäusern Anwendung findet, als Ruhezeit, in der höchstens 49 Prozent der Zeit gearbeitet werden soll. In der Praxis sieht das anders aus. Mehr als die Hälfte der befragten Ärzte schieben in der Nacht einen nahezu vollständigen Dienst. In vielen Krankenhäusern ist es darüber hinaus ungeschriebenes Gesetz, dass auch nach dieser bereits 24 bis 30 Stunden dauernden Dienstzeit weitergearbeitet wird, manchmal einen vollen Arbeitstag lang. „Oftmals sind die Ärzte so lange in der Klinik, dass sie vier aufeinander folgende Schichten von Krankenschwestern mitbekommen“, berichtete Claudia Brendler vom Arbeitskreis Junge Ärzte. Dabei sind sie gesetzlich verpflichtet, nach dem Nachtdienst nach Hause zu gehen.

„Wenn man das auf eine einfache Formel bringen will, hieße das im Vergleich zu anderen Berufstätigen: Sie arbeiten, wir arbeiten. Sie gehen schlafen, wir arbeiten. Sie arbeiten wieder, wir arbeiten immer noch“, so Jonitz. „Man stelle sich vor, bei Piloten oder Omnibusfahrern wären dieselben Arbeitszeiten üblich. Razzien unter breitem Interesse der Medien wären die Folge.“

Viele junge Mediziner machten Überstunden, weil Patienten sonst gar nicht behandelt werden könnten. Doch auch unter den gegebenen Umständen ist wegen der zeitlichen Überbelastung selbst mit der Ableistung von Überstunden, die fast nie registriert werden, laut der Studie eine ausreichende Versorgung nicht gewährleistet. Chefärzte seien als Interessenvertreter gegenüber den Klinikverwaltungen nur selten über die tatsächliche Höhe der Überstunden der Mitarbeiter informiert.

Kontrolle finde so gut wie nicht statt. Das zuständige Landesamt für Gesundheitsschutz und technische Sicherheit beschäftige nur einen Mitarbeiter zur Überprüfung der Arbeitszeit in Krankenhäusern. Das Amt hat im vergangenen Jahr nur acht Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz aufgedeckt. Tatsächlich sei der Studie zufolge aber bei der Beschäftigung von jungen Ärzten im AiP oder während der Assistenzzeit in 86 Prozent der Fälle gegen das Gesetz verstoßen worden. Jonitz forderte für die Zukunft eine verbindliche Dokumentation und Kontrolle der Arbeitszeiten.