piwik no script img

themenläden und andere Clubs Straight aus der Retrogastronomie: das „Prassnick“Zu Hause ist, wo mein Tisch ist

Früher verbrachten wir viel Zeit damit, in dunklen, staubigen Kellern herumzustehen, die als illegale Clubs verkauft und gehandelt wurden. Die Musik war so laut, dass man sich nicht unterhalten konnte, und im Winter musste man sich an seinem Beck’s wärmen, um nicht zu erfrieren. Natürlich ging ich mit, ich hatte ja keine Wahl, ich wurde gezwungen. Dennoch wurde ich nicht müde, mein Ceterum censeo zu Protokoll zu geben, das da lautete: „Wäre es nicht schön, wenn man eine richtige Stammkneipe hatte, wo man einfach hingehen kann, weil eh alle da sind, wo es einfach nur nett ist, die Bierpreise stimmen und man sich unterhalten kann?“ Ich wurde ausgelacht und mitgeschleift. Schnitt. Zeitsprung.

Wir sitzen mal wieder in unserer Stammkneipe, und ein Freund aus alten Tagen sagt mir, er habe sich kürzlich mit einem anderen Freund aus alten Tagen über unser Ausgehverhalten unterhalten. Beide seien resigniert zu dem Schluss gelangt: „Jetzt hat Holm echt gewonnen.“ Dass ich gewonnen habe, liegt nur in Teilen an meiner Hartnäckigkeit, auch nicht unbedingt daran, dass wir alle älter und vernünftiger geworden sind. Es ist das Verdienst einer rühmlichen Location, die es seit etwa einem Jahr gibt. Sie vereinigt so hervorragend alle Eigenschaften einer Stammkneipe, dass jeder Widerstand schlicht kollabieren muss.

„Gaststätte“ steht über dem unspektakulären Entree des Lokals. Dieses geschmackvoll puristische Understatement pflanzt sich im Innenraum fort. Mit besessener Liebe zum Detail ahmt das „Prassnick“, wie es nach seinem Betreiber auch genannt wird, den Stil einer HO-Gaststätte aus den Sechzigerjahren nach. Der Boden in bestechendem Linoleumkaro, die Tische mit Sprelacart-Intarsien … selbst die Türgriffe auf den Toiletten greifen den Schwung der Aufbaugeneration auf. Die überschaubare Speisekarte in grober Pappe ziert ein handgemalte Ampelmännchenadaption. Zu den Standards zählt neben Klassikern der Imbisskultur eine Artischocke mit einer Ziegenkäse-Lavendel-Dip „to die for “. Die Bockwurst, auf einer Porzellanschale an Senf serviert, erinnert an Siebdrucke von Roy Lichtenstein und Robert Rauschenberg.

Ein entscheidender Vorteil des taktisch günstig am oberen Ende der Torstraße gelegenen Lokals war bis vor kurzem, dass es immer leer war. Es war ein Laden „for those who know“ – will sagen: Für die, die das Nachtleben gesehen haben, mehrere Semester gestresst den Wochenstundenplan für die angesagten Clubs und Bars abgearbeitet haben, und sich jetzt einfach nach Ruhe und Unkompliziertheit sehnen und die Vorzuge gediegener Gastronomie zu schätzen gelernt haben.

Der Dichter Bert Papenfuß, der sich eigentlich in seinem gegenüberliegenden völlig überlaufenen Kaffee Burger um seine Stammgaste (Reinhard Mohr!) kümmern sollte, sitzt fast jeden Abend hier am Tresen. Nach den Proben kommt schon mal Frank Castorf mit einer Entourage von Schauspielern vorbeigeschneit – darunter auch seine je aktuelle Geliebte bzw. mehrere davon, was oft zu lustigen Verwicklungen führt. Mittlerweile, seitdem auch die Stadtzeitungen uber das „Prassnick“ gestolpert sind und den Trend zur „Retrogastronomie“ ausgemacht haben, ist es jeden Abend voll. Auch schon mal so voll, dass man keinen Tisch bekommt. Man mag das bedauern, den Betreibern des Ladens ist es in jedem Fall zu gönnen. Und uns kann es egal sein.

Als Gäste der ersten Stunde haben wir Anrecht auf einen Stammtisch, der im hinteren Teil auf einer kleinen Empore gleich neben der Küche steht. Jedem, der dort sitzt, machen wir freundlich aber unmissverständlich klar, dass das unser Tisch ist. Schließlich haben wir uns den redlich verdient. HOLM FRIEBE

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen