„Da sitzt ein kleines Teufelchen in mir“

Magersucht ist eine Krankheit der Überflussgesellschaft. Weit über 100.000 Frauen leiden hierzulande an der Essstörung. In den armen Ländern ist Magersucht hingegen praktisch unbekannt. Häufig hungern sich die Betroffenen regelrecht zu Tode

„Wog ich nur ein paar Gramm mehr als am Vortag, bekam ich ein Schuldgefühl“

von CLAUDIA BORCHARD-TUCH

„Es ist mir gelungen, meinen Körper vollkommen zu kontrollieren“, erklärte Birgitta May* fast stolz. Sie litt unter Magersucht, Anorexia nervosa, einer seelischen Krankheit, die den Körper als Ausdrucksmittel benutzt: Er magert fast bis zum Skelett ab. Es lässt sich kein bestimmter Zeitpunkt feststellen, an dem die Krankheit beginnt und keinen, an dem sie wieder aufhört. Sie ist ein langwieriger Vorgang, in dem alles auf komplizierte Weise miteinander verwoben ist.

In Deutschland sind mehr als 100.000 Frauen zwischen 15 und 35 Jahren an Magersucht erkrankt. Rund 60.000 leiden an Bulimie, einer Essstörung mit Heißhungerattacken und Essanfällen, denen selbst ausgelöstes Erbrechen folgen. So verhindern die Bulimiker eine Gewichtszunahme. Die Zahl der Esssüchtigen, die anfallsweise große Mengen an Nahrungsmitteln in sich hineinzwängen, ohne zu erbrechen, kann nur geschätzt werden: Wahrscheinlich leiden etwa sechs bis acht Prozent Männer und Frauen unter der so genannten Binge-Eating-Disorder (binge: Gelage). Der Anteil der Männer an den magersüchtigen Patienten ist mit 2 Prozent seit Jahren gleich bleibend gering. Es wird jedoch immer häufiger beobachtet, dass auch Männer an Bulimie erkranken. Lag früher der Anteil der Männer an den Bulimiepatienten bei weniger als 5 Prozent, sind es heute vermutlich 10 bis 15 Prozent.

Esssüchtige sind meist zu dick, Bulimiker normalgewichtig und Magersüchtige auffallend dünn. Ihre Krankheit ist die gefährlichste aller Essstörungen. Da Magersüchtige ihre Nahrung bis auf ein Minimum reduzieren, hungern sich bis zu 20 Prozent der Betroffenen im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode. Häufigste Todesursachen sind Infektionen, Austrocknung und Nierenversagen; manche Patienten begehen Selbstmord.

„Der Selbstmord ist aber nicht die häufigste Todesursache bei Magersucht“, erklärte Werner Köpp, Psychoanalytiker und Internist an der Berliner Uniklinik Benjamin Franklin. „Anorektiker haben meist keine Todessehnsucht – im Gegenteil: Sie glauben den Tod und überlebenswichtige Triebe besiegen und nur aus sich selbst leben zu können.“

Essgestörte nehmen ihren Körper offenbar verändert wahr. Einige erklären, dass sie nicht genau wissen, wie sie sich fühlen sollen. Sie leiden unter schweren Defiziten in der Selbsteinschätzung und im Selbstvertrauen. Bulimiker sind von stark emotionaler Natur und setzen das Essen als Mittel ein, mit soziokulturellem Druck fertig zu werden. Abführen kann benutzt werden, um negative Gefühle aus dem Körper zu entlassen.

„Da sitzt ein kleines Teufelchen in mir, das sagt: Dieses oder jenes Problem kannst du nicht anders lösen als durch einen Essanfall“, erklärte die ehemalige Deutsche Meisterin im Eiskunstlaufen Eva-Maria Fitze, die an Bulimie erkrankt ist.

Die meisten Essgestörten halten sich für viel zu dick. Magersüchtige haben dieses Empfinden auch dann noch, wenn sie bereits bis zum Skelett abgemagert sind. Sie sind Perfektionisten und versuchen, ihr Leben durch strenge Regeln zu kontrollieren. „Jeden Morgen stellte ich mich in gespannter Erwartung auf die Waage“, erzählt Birgitta May. „Wog ich nur ein paar Gramm mehr als am Vortag, bekam ich ein unglaubliches Schuldgefühl. Ich hatte mich nicht ausreichend unter Kontrolle gehabt, und dies musste ich sofort wieder ausgleichen. Ich durfte in Zukunft nur noch weniger essen.“

Die Ursachen der Essstörungen sind noch nicht vollkommen geklärt. Wahrscheinlich fördert die in der westlichen Welt zu beobachtende ambivalente Einstellung zu Körperpflege und Gewicht die Entstehung von Essstörungen: einerseits das intensiv propagierte Schlankheitsideal, andererseits die nicht minder intensive Werbung für den Konsum des Lebensmittelüberflusses. Magersucht tritt nur dort auf, wo Nahrung im Überfluss vorhanden ist – in der Dritten Welt ist die Erkrankung praktisch unbekannt.

Psychoanalytiker sind der Ansicht, dass das Kleinkind beim Essen erstmalig die Befriedigung eines Triebes und die Linderung eines Unbehagens erlebt, nämlich des Hungers. In der menschlichen Entwicklung zählt Essen zu den frühesten und wichtigsten Bedürfnissen. Essen bedeutet aber zugleich auch Einverleiben. Für das Kleinkind ist die Nahrungsaufnahme die einzige Möglichkeit, etwas in Besitz zu nehmen. Da das Besitzstreben auf Kosten anderer geht und somit als Aggression empfunden werden kann, kann es zu einer Quelle von Schulderleben werden. Essen ist offenbar kein einfacher natürlicher Vorgang, sondern ein kompliziertes Verhalten, das durch Trieberleben insgesamt sowie durch familiäre und andere zwischenmenschliche Beziehungen beeinflussbar und sehr störanfällig ist.

Die Familientherapeutin Mara Selvini Palazzoli beobachtet, dass Familien von Anorektikern nach außen oft wie ideal wirken, dass es jedoch im Innern eine unterdrückte Missstimmung gibt. Zwar sind die Eltern nicht in der Lage, zärtlich, liebevoll und bestärkend aufeinander einzugehen, doch bringen sie auch nicht den Mut auf, sich zu trennen. Um dem Unbehagen Ausdruck zu verleihen, wird die Tochter von einem Elternteil gegen den anderen ausgespielt und allein gelassen. Einige Psychologen sind auch der Ansicht, dass die Patientinnen sich nicht von einer überfürsorglichen Mutter lösen und die Rolle der erwachsenen Frau akzeptieren können. Appetitstörung und Erbrechen seien Ausdruck der Ablehnung von individueller Verselbstständigung und des Ekels vor der Sexualität. In der magersüchtigen Verfassung sei die Patientin der Verantwortung enthoben, selbst erwachsen und Mutter zu werden. Die Tochter scheitert somit am Vorbild einer überfürsorglichen, perfekten Mutter und flüchtet ins Hungern.

Anderen Forschern ist diese Deutung aber zu schlicht. „Die so genannte anorektische Mutter gibt es nicht“, erklärte der Heidelberger Wissenschaftler Stefan Zipfel. Wenn die Tochter krank ist und hungert, wird die Mutter sie umso mehr schützen wollen.“

Ein genetischer Faktor wird aufgrund von Zwillingsuntersuchungen vermutet. Falls ein – eineiiger – Zwilling an Anorexie oder Bulimie erkrankt ist, hat der zweite ein höheres Risiko, an der gleichen Erkrankung zu leiden. Auch Hormonstörungen könnten eine Ursache sein. Vor einiger Zeit entdeckte der japanische Forscher Masashi Yanagisawa die Orexine, Hormone, die offenbar den Appetit kontrollieren. Sind ihre Konzentrationen bei Essgestörten verändert?

„Jeden Morgen stellte ich mich in gespannter Erwartung auf die Waage“

Einige Forscher gehen auch davon aus, dass die Botenstoffe Serotonin und Norepinephrin, die bei Depressiven vermindert sind, auch bei Essstörungen nicht normal funktionieren. Dies könnte erklären, warum Essgestörte so häufig depressiv sind. Das Antidepressivum Fluoxetin kann manchen Anorektikern helfen, indem es den Serotoninspiegel hebt. Andere Hormone wie Kortison und Vasopressin sind bei Essgestörten dagegen oft erhöht.

Therapeuten setzen bei Essstörungen auf verschiedene Behandlungsansätze. Bei Magersucht muss den Patienten zunächst medizinisch zu einem Ernährungszustand verholfen werden, in dem sie einer Psychotherapie überhaupt zugänglich sind - notfalls mit Infusionen. Ist das Leben eines magersüchtigen Patienten akut gefährdet, plädiert Thomas Paul von der psychosomatischen Fachklinik Bad Bramstedt sogar für die Zwangseinweisung in eine Spezialklinik. Allerdings: Bislang liegen kaum Studien mit Erfahrungen über den Erfolg solcher Maßnahmen vor. Paul selbst spricht bei diesem Vorgehen von einer „Gratwanderung“.

Anschließend ist es wichtig, dass die Patienten lernen, ihr Essverhalten zu ändern. Das geschieht in einer Art Esstraining, bei dem die Patienten im Beisein eines Therapeuten essen. Gleichzeitig beginnt die psychotherapeutische Betreuung. Sie ist häufig tiefenpsychologisch orientiert, kann aber auch eine Verhaltens-, Bewegungs- oder Maltherapie sein. Ziel der Verhaltenstherapie ist nicht nur eine Normalisierungen des Gewichtes, sondern auch, das Verhältnis zum eigenen Körper und zur sozialen Umwelt zu ändern. Die Nahrungsaufnahme wird geübt: Es gibt eine festgelegte tägliche Kalorienmenge, verteilt auf 4 bis 6 Mahlzeiten. Es folgen kontrollierte Ruhepausen. Die Patienten lernen, extreme Anstrengungen zu vermeiden. Richtiges Verhalten ist mit positiven Verstärkern versehen und in Behandlungsverträgern vereinbart, die zeitlich begrenzt sind. Die Bewegungstherapie soll das Gespür für den eigenen Körper und seine Bedürfnisse wieder herstellen, das die Essgestörten meist verloren haben. In Einzelübungen und in der Gruppe entdecken die Patienten schrittweise die Möglichkeiten ihres Körpers. Sich bewusst im Raum zu bewegen steht dabei ebenso auf dem Programm wie das Training an einfachen Geräten sowie Fitness- und Gymnastikübungen.

Je jünger der Patient ist, desto wichtiger ist es, die Eltern oder die weitere Familie in die Psychotherapie einzubeziehen, auch in Form einer Familientherapie. Die Familientherapie bezieht nicht nur die Essgestörten, sondern auch deren Eltern und Geschwister mit ein, die zusammen und einzeln zu den Sitzungen bestellt werden. Sie überblickt drei Generationen, deckt das Zusammenspiel der Beziehungen in der Familie auf und die oft von dem Patienten eingenommene Opferrolle. Sie drängt auf die Veränderung aller Beteiligten.

Dass Essstörungen sehr ernst genommen werden müssen, zeigen die Ergebnisse einer Studie. Gemeinsam mit Heidelberger Kollegen haben Forscher der Freien Universität Berlin ermittelt, dass 21 Jahre nach Ersteinweisung in eine Klinik allenfalls die Hälfte der magersüchtigen Patienten als geheilt gelten konnte. Rund 15 Prozent waren sogar an den Folgen der Krankheit gestorben. Bei den Bulimikern sah es kaum besser aus: Zwei Jahre nach der Behandlung war lediglich etwa jeder dritte Patient wieder gesund.

*Name wurde verändert