Die Wandlung von Lille

aus Lille DOROTHEA HAHN

In Lille, in einer Kneipe im Stadtteil Saint Sauveur, haben sie zum ersten Mal die „Internationale“ geschmettert. Man schrieb das Jahr 1888. Es war eine Weltpremiere. In der 200.000-Einwohner-Stadt in Frankreichs Norden und ihrer Umgebung entlang der belgischen Grenze, florierten einst der Bergbau und die Textilindustrie. Dann dekretierte die EU die Schließung der Gruben, und die Textilunternehmen verlagerten ihre Werke in Billiglohnländer. Dennoch blieb die Region „Nord“ das Traditionsland der französischen Arbeiterbewegung. Die Leute hätten hier jahrelang sogar einen Stock gewählt. Vorausgesetzt, er wäre mit dem Etikett „PS“ versehen gewesen.

Seit einiger Zeit ist das anders geworden, und am vergangenen Sonntag färbte sich die Region braun. Im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen rückte Jean-Marie Le Pen, Chef des rechtsextremen „Front national“, in „Nord“ auf Platz eins. Noch vor den neogaullistischen Staatspräsidenten Jacques Chirac und weit vor den sozialdemokratischen Premierminister Lionel Jospin. Während Le Pen, zusammen mit dem zweiten rechtsextremen Kandidaten Mégret frankreichweit ein Wahlergebnis von 19 Prozent holte, bekamen die Rechtsextremen in der rot-rosanen Region „Nord“ fast 22 Prozent der Stimmen.

Lille hat sich in den vergangenen Jahren radikal modernisiert. Der Hochgeschwindigkeitszug TGV hat die Stadt auf eine Stunde an das 250 Kilometer entfernte Paris herangezoomt und auf 45 Minuten an Brüssel. In der Lilloiser Innenstadt sind Glas-und-Stahl-Paläste entstanden. Lille sei eine Boomtown, heißt es in Paris, Lille habe die Umwandlung von der Industriestadt zum Dienstleistungszentrum gemeistert.

Innerhalb der Stadtgrenzen Lilles hat sich Jospin schwach behaupten können. Aber die beiden Rechtsextremen zusammen wurden zur zweitstärksten politischen Kraft. In zahlreichen Wahlkreisen sogar zur stärksten.

Nouveau-Mons ist eine der Hochhaussiedlungen für sozial Schwache, die in den 60er- und 70er-Jahren am Stadtrand gebaut wurden. Weiter stadteinwärts, in den roten Backsteinhäusern, nennen sie Viertel wie Noveau-Mons „Kaninchenställe“. Zur Zeit, als die Hochhäuser enstanden, warb Frankreich noch Arbeitskräfte im Ausland an, besonders in Nordafrika. Seither verloren viele Einwanderer ihre Arbeit, die Boomtown braucht weniger Arbeitskräfte als die Industriestadt.

„Wir sind hier nicht mehr in Frankreich“, schimpft eine Mittvierzigerin, die einen Kinderwagen durch Nouveau-Mons schiebt, „das hier ist Ausland.“ Sie betreut privat kleine Kinder, viel verdient sie nicht. Ihre Kleidung ist ärmlich, für eine Sanierung ihrer schwarzen Zahnreste reicht es nicht. Ihren Namen verschweigt sie: „Die würden mir sonst vielleicht wieder das Auto anzünden oder die Wohnung ausräumen.“

Mit „die“ meint die Frau die Jugendlichen, die abends vor dem Aufzug in ihrem 18-stöckigen Sozialbau lungern. Sie nennt sie „Araber“, obwohl die Jugendlichen in Frankreich geboren sind. Die Frau erzählt auch, dass „die“ sie anspucken, dass „die“ sie „gemein“ anschauen und dass „die“ „sale Française“ zu ihr sagen – dreckige Französin.

Am 5. Mai will sie wieder Le Pen wählen. Damit er die „jungen Herumlungerer“ abschiebt. Die Älteren, „jene, die schon 20 oder 30 Jahre hier sind, und sich anständig benehmen“, sagt sie, „können von mir aus bleiben“. Das Gespräch ist beendet. Madame schiebt den Kinderwagen weiter.

Zwischen den Wohntürmen stehen vier junge Männer breitbeinig um ein blaues BMW-Cabrio herum. Mit den Nachbarn sei der Kontakt „gut“, beteuern sie. „Nique Le Pen“ – „fick Le Pen“ – sagt ein 23-Jähriger. Er ist französischer Sohn einer italienischen Mutter und eines marokkanischen Vaters. Er hat noch nie gearbeitet. Er hat auch noch nie gewählt. Wenn in diesen Tagen andere junge Lillois gegen Le Pen demonstrieren, fährt er hupend im Cabrio vorbei. Für ihn sieht die Problemlösung so aus: „Wenn ich Le Pen irgendwo treffe, jage ich ihm drei Kugeln in den Schädel.“ Seinen Namen verrät er nicht: „Wegen der Bullen.“

Anonym will auch sein gleichaltriger Kumpel bleiben. Er ist Kind einer polnisch-spanischen Beziehung. „Wenn die alle Ausländer rausschmeißen, die Polen, die Italiener, die Portugiesen und die Araber“, zählt er die Einwanderergruppen der letzten Jahrzehnte auf, „wird es verdammt leer hier in Frankreich.“

Lilles sozialdemokratische Bürgermeisterin heißt Martine Aubry. Sie hat vor sieben Jahren ein „Handbuch über den Rechtsextremismus“ veröffentlicht. Mit Anleitungen zum Kämpfen. Sogar einen Vordruck für eine „Anzeige wegen rassistischer Äußerungen“ hat sie beigefügt. Seit das Buch erschienen ist, stand Aubry in Paris mehrere Jahre lang an der Spitze des Arbeits- und Sozialministeriums. Später übernahm sie das Rathaus von Lille. In Paris sagen Parteifreunde Madame Aubry auch heute noch eine Zukunft als Premierministerin voraus. In Lille klagen einstmals sozialdemokratische Wähler darüber, dass sie „nicht genug für die Arbeiter“ tut.

Im Stadtteil Fives, wo die Fabriken längst zugemacht haben, arbeitet Gisèle Savegnago in einem Bar an der Hauptstraße. Jahrzehntelang wählte die Endvierzigerin sozialdemokratisch. Diesmal steckte sie einen weißen Stimmzettel in die Urne. An der Wand hinterm Tresen hängt ein Bild des sekularen türkischen Rebublikgründers Kemal Atatürk. Das hat Barbesitzer Mehmet Akalin aufgehängt, ein Bewunderer von Atatürk. Seit er auch die französische Staatsangehörigkeit hat, wählt er links. Wenn er seine Kellnerin sticheln will, nennt er sie „Gestapo“. Oder sagt: „Ihr Franzosen wollt immer Recht haben, jedenfalls wenn ihr es mit einem Ausländer zu tun habt.“ Madame Savegnago, alteingesessene Lilloise, die ihren Familiennamen einem italienischen Ehemann zu verdanken hat, reagiert darauf heftig. „Ich bin keine Rassistin, aber in diesem Land gibt es einfach zu viele Freiheiten und zu wenig Kontrolle. Der Staat schmeißt denen Geld fürs Nichtstun in den Rachen.“ Der Algerier am Tresen, der schon am frühen Vormittag ein paar Gläschen gekippt hat, kommentiert: „Bravo“ und erzählt, dass ihn schon wieder eine Zeitarbeit-Agentur nach drei Tagen rausgeschmissen habe: „weil ich Araber bin“.

Nathalie arbeitet im Juwelierladen gegenüber. Die 29-jährige Blondine pflegt den diskreten Kleidungsstil und den zurückhaltenden Umgangston der Bourgeoisie. Ihren Familiennamen verrät auch sie nicht. Wo Nathalie wohnt, gibt es keine zerstochenen Autoreifen und keine Unflätigkeiten am Hauseingang. Aber einmal ist sie in der Métro, die die Städte der Großregion „Nord“ miteinander verbindet, überfallen worden. Die Täter nahmen ihre Fingerringe mit. „Das waren Franzosen“, sagt sie, als gehöre es deshalb nicht zum Thema. Als „Europäerin habe ich selbstverständlich für Le Pen gestimmt“. Sie sei „nicht gegen die Ausländer“, sagt sie über Leute, die so französisch sind wie sie. Dann erklärt Nathalie noch, dass härtere Sanktionen gegen Straftäter nötig seien. Und „als Drohmittel“ die Todesstrafe.

Die Zahl der rechtsextremen Wähler ist in der Region ganz allmählich gestiegen. Bei jeder Wahl wurden es ein paar mehr. Unabhängig von der Höhe der Stimmenthaltungen und unabhängig davon, ob es eine lokale oder eine nationale Wahl war. Früher wusste man im Norden, wie die Nachbarn wählten. Die Leute standen zu ihrer Überzeugung. Heute gilt ein striktes Wahlgeheimnis. Zumindest jene, die Le Pen wählen, wollen nicht darüber reden. „Das ist meine Privatsache“, heißt es jetzt.

Lille-Sud ist ein berüchtigter Stadtteil. Ein Quartier, das wegen nächtlicher Autorodeos, angezündeter Bushaltestellen und wegen Drogengeschäften in die Zeitungen kommt. Auf einem Mäuerchen sitzt ein blonder 34-Jähriger. Er lebt von Sozialhilfe und Schwarzarbeit. Seine gleichaltrige Freundin, ebenfalls Langzeitarbeitslose, sitzt neben ihm. Er hat für Le Pen gestimmt, sie hat überhaupt noch nie gewählt. Hat sich in dem Jahrzehnt, das seit ihrem 18. Geburtstag vergangen ist, nicht mal in die Wählerlisten eintragen lassen. Als sie neulich mit ihrer Schwägerin im Stadtteil spazierenging, sei sie sie mit kleinen Steinchen beworfen worden, begründet sie seine Wahlentscheidung für Le Pen. Die Angreifer seien Kinder gewesen, „Neun-, Zehn- und Elfjährige“. Als die junge Frau sie beschimpfte, hätten sie „Wir scheißen auf Frankreich“ gerufen. „Für die ist Frankreich ein Mülleimer“, meint die Frau, „die müssen hart an die Kandare genommen werden.“

Der blonde Mann will im zweiten Durchgang einen leeren Stimmzettel abgeben. Sagt er jedenfalls. Begründung: „Ich will hier keinen Krieg.“ In fünf Jahren aber, „wenn Chirac dann immer noch nicht für Ordnung gesorgt hat“, sei „endgültig Schluss“, droht er: „dann wird Le Pen Präsident oder sein Nachfolger“.