Mehr als nur Affentrittholz

Und es gibt sie doch noch in der Wegwerfgesellschaft: Familienbetriebe, in denen Schrauben einzeln zu kaufen sind. Ein Porträt  ■ Von Sonja Staack

Es ist eigentlich eine Binsenweisheit: Wer zwei Schrauben braucht, kauft besser zwei als zwanzig, wer eine stumpfe Kreissäge hat, kauft besser ein neues Sägeblatt als eine neue Maschine, wem ein Schloss einrostet, der lässt es besser reparieren, als sich eine neue Tür zu kaufen. Jedenfalls, wenn er sich am Prinzip der Nachhaltigkeit orientiert. Aber wer in der Wegwerfgesellschaft kann sich das heute noch leisten? Ist nicht Personal, das einzelne Schrauben sortiert oder Sägen repariert, längst unbezahlbar geworden seit Möbel-Discounter und Baumarkt-Ketten die Städte erobert haben?

Dass das keineswegs der Fall ist, beweist der Eisenwarenladen Schüllenbach auf St. Pauli. Seit 133 Jahren versorgt der Familienbetrieb Hand- und Heimwerker mit Werkzeug und Material. „Natürlich gehen inzwischen die meisten erstmal zu Ikea, wenn sie ein neues Regal brauchen“, erzählt Alexander Flagge, der Junior im Laden. „Aber zu Hause stellen sie dann fest, dass die Ikea-Konstruktionen nicht für die hiesigen Häuser gemacht sind. Das Regal hält zum Beispiel nicht an der Wand, und dann kommen sie mit dem Problem zu uns.“ Eines von vielen Beispielen, in denen die Familie Flagge inzwischen Lösungen entwickelt hat und auch extra Material produzieren lässt.

Hinter dem eher unauffälligen kleinen Laden in der Budapester Straße 49 verbergen sich einige hundert Quadratmeter Werkstätten und Lager. „Ein üblicher Baumarkt hat rund 40 verschiedene Schlösser vorrätig“, so der Junior, „wir haben etwa 400.“

Natürlich gibt es trotzdem Dinge, die auch die Flagges nicht haben. Doch im Zweifel werden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um auch das ausgefallenste Werkstück irgendwo aufzutreiben. So fiel auf der Hanseboot vor Jahren mal der Motor eines Ausstellungs-Schiffes aus, weil eine Schraube den Geist aufgab. Die Flagges klemmten sich ans Telefon und hatten bald herausgefunden, dass es sich bei dem wichtigen Kleinteil um die Sonderproduktion einer Werft in Übersee handelte – eine Woche später war das gute Stück geliefert, und die Hanseboot konnte beginnen.

Bei neueren Geräten rechnet sich eine Reparatur dagegen häufig nicht. „Wenn jemand mit einer Stichsäge kommt, die er für 20 Euro im Baumarkt gekauft hat, und die nach zwei Wochen kaputt gegangen ist, kann ich häufig nur sagen: Schmeiß weg, das lohnt sich nicht“, so Flagge Junior.

Die riesigen Regale, unzählige Pappkartons und uralte Holzschubladen erzählen eine mindestens 22-jährige Geschichte. 1980 zog der Laden vom Neuen Pferdemarkt in die jetzigen Räume in der Budapes-ter Straße um. Doch auch der Junior kennt die alten Fächer wie seine Westentasche. Jedes einzelne ist liebevoll von Hand beschriftet, wenn auch die Farbe inzwischen leicht ausgeblichen ist. Ob Rohrzangen, Türriegel, Schuhcreme, Stuhlbeinnägel, Knöpfe, Duschmantelringe oder Flaschenöffner, in den alten Wandschränken hat alles hat seinen festen Platz.

In den Regalen daneben sind rund 4600 verschiedene Schrauben zu finden. Überall ist gerade ein bisschen mehr gelagert, als eigentlich hineinpasst. Nur in einer Ecke ist die Wand hinter dem Regal zu erspähen. „Da gehören eigentlich Besenstiele hin“, erklärt Alexander Flagge, „aber nach dem Dom ist es da immer ein bisschen leer.“ Denn auf dem Jahrmarkt wird nicht nur viel gefegt, sondern auch viel billiges Holz für alle möglichen Reparaturen gebraucht – „Affentrittholz“ heißt das im Fachjargon.

Ein weiterer Stammkunde des Traditionsladens ist der FC St. Pauli. Wenn Pauli mal wieder den Weltpokalsieger besiegt und jubelnde Fans im Siegesfieber aus Versehen einen Zaun verbiegen – vermutlich werden es die Flagges sein, die am Tag danach das Stadion wieder in Schuss bringen. Man merkt eben, dass der Laden schon länger zum Kiez gehört. „Da kommt schon mal jemand rein, der den Schlüssel für seine Handschellen verloren hat. Wir fragen da nicht lange nach, sondern helfen.“

Alexander Flagge gehört bereits zur siebten Generation des Familienbetriebs. Sein Großvater Ferdinand Schüllenbach, der dem Laden seinen Namen gab, schaut noch regelmäßig rein. Was passiert, wenn seine Eltern in Ruhestand gehen? Das stehe noch nicht fest, sagt der Student. Eigentlich will er Lehrer werden, Geographie und Englisch unterrichten. Aber falls weder sein Bruder noch seine Schwester den Laden übernehmen wollen, wird er darüber wohl nochmal mit sich reden lassen.