Berechnend, machtgeil, intrigant

Die Neuköllner Oper verwandelt den Schwank „Herz über Bord“ in eine „Wahlkampf-Operette mit Wählerstimmen“

Im Baugewerbe nennt man so etwas Entkernung. Ein abbruchreifes Gebäude wird bis aufs Gerippe abgetragen, um danach die kahl geschlagenen Etagen mit neuer Bausubstanz zu füllen. So ähnlich muss man sich das vorstellen, was Andreas Bisowski und Heidi Mottl mit der 1935 am Theater am Nollendorfplatz uraufgeführten Operette angestellt haben. Das Libretto von „Herz über Bord“ wurde so ziemlich ganz über die Reling gekippt und sämtliche Nebenfiguren gleich mit dazu. Behalten hat man den Plot: zwei Paare, die sich lieben: Lili und Albert, Gwendolin und Hans. Zum Schein muss Lili aber Hans heiraten, weil’s die Berechnung so will. Anno 35 war eine zu erwartende Erbschaft der Grund. Im Jahre 2002, genauer im Wahljahr 2002, geht es um mehr: um den neuen Kanzler – sorry – die neue Kanzlerin dieser Republik.

Lilli Brand (Doris Prilop) steht in den Startlöchern, und die Prognose ist gut für sie. Lilli Brand ist keine Angela Merkel. Lilli ist berechnend, machtgeil, auf smarte Weise intrigant. Sie will, nein sie muss Kanzlerin werden – und sei es auch nur für einen Tag. Dafür geht sie über Leichen. Sie beherrscht die Klaviatur des Politentertainments so perfekt wie die der Wahlkampflügen: Wasser predigen und heimlich Whisky trinken. Was fehlt ist: der Mann. Der First Husband. Ihr Albert (Rudolf Krause) ist ein trüber Trottel. Ahnungslos und gutmütig. Ein Dummchen und bei der Post. „Nicht hauptstadtkompatibel“ und „Einschaltquoten-Terminator“.

Also wird zum Schein Gwendolines Geliebter medienwirksam geehelicht. Sein Auftrittslied „Hallo! Hat mich jemand gerufen?“, schmettert Gerald Michel als Ranschmeißer-Tenor direkt ins Publikum und skizziert damit seine Figur gleich mit scharfen Konturen: ein selbstverliebter Hantelschwinger, ein sich selbst überschätzender Macho mit der hoch polierten Fassade des Frauenverstehers. Diese Gwendoline (Michaela Karina Allendorf) kann einem nur Leid tun. Andererseits, sie ist halt ein Dummchen, ein Teppichluder, das von Ruhm als Schauspielerin träumt und sich auf dem Schiff in den Blitzlichtgewittern der Presse aalen will. Die gemeinsame PR-Kreuzfahrt wird – selbstverständlich – zum Desaster für das über kreuz verbandelte und verheiratete Quartett.

Künnekes Lieder, von Andrew Hannan lediglich für Klavier und Geige neu arrangiert, umschiffen die allzu vorhersehbaren Strukturen des Schlagers der banalen Art und sind doch nicht weit davon entfernt, ohrwurmtaugliche Gassenhauer zu sein. Sie sind nicht mehr und nicht weniger perfektes Komponistenhandwerk, wie es die Unterhaltungsindustrie der 30er-Jahre erforderte. Entscheidend für den Erfolg dieser Produktion aber ist, dass die tempo- und einfallsreiche Inszenierung den Witz aus dem neuen Libretto, den tagespolitischen Pointen zieht, und nicht aus einer abschätzigen Ironie gegenüber dem alten Liedmaterial. Ob Angela Merkel hier hätte lernen können, wie sie die K-Frage doch für sich mit ja beantwortet? Guido jedenfalls bekäme einen Tipp, wie er im September auf 17, 82 Prozent käme. Lilly Brand rät: Schnapp dir deinen Mann und schlepp ihn vors Standesamt. Wozu schließlich haben wir die Homoehe.

AXEL SCHOCK

Nächste Vorstellungen 26. April, 2.–4. und 8.–10. Mai, jeweils 20 Uhr. Neuköllner Oper, Karl-Marx-Str. 131–133