: Untergrundarbeit
Zu Besuch bei einem Kanalarbeiter
von GABRIELE GOETTLE
Gerhard Rosner, Kanalarbeiter bei der MA30-Wien Kanal. 1961–1963 Volksschule, 1964–1970 Hauptschule in Wien-Simmering. 1971–1973 Lehre als Schlosser (Bauschlosser). 1973 Gesellenbrief (Gesellenstück: Zusammenbau eines Schlosses mit Zungensperre und Einbau i. e. Portal). Pflichtdienst b. Bundesheer 1974 f. 9 Monate. Anschl. Wiedereintritt in seine alte Firma als Schlosser. Anf. d. 80er-Jahre Bewerbung b. d. Stadt Wien wg. absehbarer Schließung seiner Firma. Am 1. 2. 1983 Einstellung b. d. Gemeinde Wien, MA30-Wien Kanal, als Kanalarbeiter. 1993 nach zehnjähriger Probezeit pragmatisiert. Seit 1996 Personalvertreter (Gewerkschaftsmitglied b. ÖGB seit Anf. d. 70er-Jahre). Er spielte von 1963–1970 Fußball als Stürmer beim Verein Austria Wien. Sportliche Betätigung i. Fußball bis 1989, dann Wechsel z. Tennis. Herr Rosner wurde am 17. 3. 1955 in Wien-Simmering geboren. Die Mutter arbeitete als Gemeindebedienstete und als Darmputzerin im Schlachthof St. Marx, der Vater als Versicherungsvertreter. Rosner ist geschieden und hat drei Kinder. Seine Lebensgefährtin ist Abteilungsleiterin einer Versicherung.
Die für das Abwasser- und Kanalsystem Wiens zuständige Behörde, die „Wien Kanal“, hat kein eigenes Amtsgebäude, sie begnügt sich mit einer Etage in einem Geschäftshaus. Der graue Neubau steht am Rande des alten Arbeiterbezirkes Simmering. In der Nähe sind der Donaukanal, der ehemalige St. Marxer Schlachthof, Gas- und Elektrizitätswerk, und hinter der Simmeringer Haide liegen die zur Wien Kanal gehörenden Entsorgungsbetriebe und die Hauptkläranlagen. Auf diesem großen, teils verödeten, teils neu bebauten Gewerbegebiet zwischen Simmeringer Hauptstraße und Donaukanal befindet sich also quasi der Darmausgang von Wien, hier werden die unterirdisch zusammengeleiteten Stoffwechselprodukte der Stadt geklärt und entsorgt.
Herr Dipl. Ing. Helmut Kadrnoska, Senatsrat und Direktor der Wien Kanal, Leiter der Magistratsabteilung 30, empfängt uns freundlich. Sein Zuständigkeitsbereich umfasst das Planen, Errichten, Erhalten und Verwalten der öffentlichen Kanalisation, das Führen und Betreiben der dazugehörigen Anlagen (von EDV-Anlagen bis Kläranlage), die Überwachung der Einleitungen aus Gewerbe und Industrie, das Räumen der Straßenkanäle und die Räumung von privaten Kanälen, Senk- und Sickergruben. Auch sein Pressereferent Heinz Krejci ist anwesend und teilt uns mit, er habe unserem Wunsch entsprochen und einen Kanalarbeiter gefunden, mit dem wir sprechen können, anschließend sei ein Termin vereinbart. Der Chef über alles scheint nicht gekränkt zu sein darüber, dass nicht er im Zentrum unseres Interesses stehen wird.
Herr Direktor Kadrnoska gibt uns eine kleine Einführung, erzählt vom Abwassermanagement, von innovativen Technologien, vom Verlegen der Telekommunikationskabel direkt durchs Kanalsystem (300 km ohne jede Aufgrabung), von umweltfreundlichen Strategien bei der Problemlösung. „… Ja, die Wiener Kanalisationsabteilung ist mittlerweile so um die 180 Jahre alt, wenn wir das jetzt mal so als Abteilung bezeichnen wollen … Im Jahr 1831 gab es eine große Choleraepidemie, bedingt durch missfunktionierende Abwasserentsorgung. Damals hat noch der Kaiser entschieden, nach bis heute modernen Methoden die Kanalisation in Angriff zu nehmen. Wir betrachten das sozusagen als Startschuss für unsere Abteilung … Aber damit Sie das nicht missverstehen, es gab natürlich schon Kanäle damals. Im innerstädtischen Bereich wird das Abwasser bei uns ja schon seit Jahrhunderten entsorgt, wir haben einen Plan von 1739, der sehr genau ist – bei Aufgrabungen finden wir diese alten Kanäle noch –, und demnach waren wir die erste europäische Stadt, die zu diesem Zeitpunkt vollständig kanalisiert war … Nur, damals lief das halt einfach in die Flüsse, in den Donaukanal hinein, und zehn Meter weiter unten haben sie eben Wasser geschöpft und Wäsche gewaschen. Na, ich will jetzt nicht zu sehr in die Geschichte … Jedenfalls ist in allen Belangen der Abwasserentsorgung von damals bis heute eine Menge geschehen, nicht nur bei der Ableitung der Wässer durch die großen Kanäle zur Kläranlage, wo die Abwasserreinigung stattfindet, sondern auch – das wird von der Öffentlichkeit immer etwas vergessen, ist aber ein sehr wichtiger Aspekt – bei der Verwertung und Entsorgung des Klärschlammes. Er besteht ja aus abgestorbenen Bakterien… diese Biomasse hat auch einen entsprechenden Heizwert. Das wird also vollständig entwässert und vollständig verbrannt, es bleibt nur 10 % bis 17 % Asche übrig. In unseren Verbrennungsöfen erzeugen wir über einer Dampfturbine Strom dabei, und die Überschusswärme wird ins Fernheiznetz eingespeist…“ Kaffee wird gebracht. Der Pressereferent überreicht uns eine Mappe mit Informationsmaterial.
„Wir haben auch seit 20 Jahren Filter“, sagt der Direktor stolz, „wirklich optimale Filter haben wir seit 10, 15 Jahren für die Verbrennung des Klärschlammes, sodass man also sicher sein kann, dass auch so grausliche Stoffe wie Dioxine und Furane praktisch unter der Nachweisgrenze nur rauskommen. Der Filterkuchen wird dann entsorgt, übrigens in Deutschland“, er lacht, „das führen wir zu Ihnen rauf zur Endlagerung in ein Salzbergwerk. Das sind aber nur ein paar Tonnen pro Jahr. Momentan bauen wir gerade unsere Kläranlage um, ertüchtigen sie nochmals auf die letzten Prozentpunkte zu kommen mit der Reinigungsleistung, also auf 98 %. Schaun Sie, das ist ein sehr gutes Ergebnis, aber selbst wenn man 99 % hätte, was keine Kläranlage kann, dann bliebe immer noch 1 % Dreck übrig von 4 Millionen Einwohnergleichwerten, wie wir sagen, also Einwohner und Industrie zusammen. Allerdings, von den 250 Millionen Euro, die wir jetzt in die Kläranlage investieren, sind wahrscheinlich 200 Millionen Stickstoffentfernung … was für die Donau nicht wirklich einen Einfluss hat, aber das ist eben heute die Regelung und entspricht der Größe unserer Kläranlage, die sicherlich die größte ist in Mitteleuropa … So, und nun übergebe ich Sie Herrn Krejci, der Sie zu unserem Kanalarbeiter bringen wird.“
Wir gehen zu Fuß zur Kanalbetriebsaußenstelle, die in der Nähe liegt. Der Pressereferent, ein älterer Herr, hat eine Krawatte um, auf der erlesene Buchrücken zu sehen sind. Er ist ein Büchernarr, liebt seine Arbeit und interessiert sich besonders fürs Historische, für Sozialgeschichte. Er hat eine Sammlung zu kleinen Spezialgebieten, u. a. auch zum Thema Kot. Die Außenstelle besteht aus einem großen Innenhof, umgeben von Hallen und Garagen für die Einsatzzeuge und Gerätschaften sowie von einem Flachbau, in dem Büros, Material- und Personalräume untergebracht sind. Wir nehmen an einem langen Tisch im leeren Versammlungsraum Platz, und nach wenigen Minuten kommt der Pressereferent mit dem Kanalarbeiter. Herr Rosner ist ein mittelgroßer, drahtiger, dunkelhaariger Mann Mitte vierzig. Nach kurzer Verlegenheit berichtet er in gemäßigtem Wiener Dialekt und zunehmend selbstbewusst von seiner Arbeit. Auf unsere Frage, was sich denn so alles an Seltsamkeiten im Abwasser der Kanäle finden lasse, erzählt er: „Na, da ist vor allem Katzenstreu, das klumpt zusammen, die Leute entsorgen so was einfach ins Klo, dann eben Kippen und Essensreste. Haben wir mal einen Stromausfall, dann ham wir aus den Tiefkühltruhen die ganzen Knackwürsteln, es steht ja nicht drauf, von wem das kommt. Dann kann Schutt drin sein, von den Baustellen illegal entsorgt, und, na, da gibt’s viele Sachen. Ein Gebiss mal auch ab und zu, das einer im Klo verloren hat, weil ihm schlecht war, oder auch von den Damen … äh, die Binden und so … aber auch Strumpfhosen, die sind gefürchtet …“ Der Pressereferent ergänzt: „Wenn die dann in die archimedische Schraube kommen am Ende, die ziehen sich 20 Meter lang oder verstopfen alles. Aber wir hatten auch eine riesengroße Palette an Präservativen gehabt …“ Herr Rosner lacht trocken: „Das hat sich sehr zum Positiven geändert, muss ich sagen, das ist nimmermehr so viel, wie’s früher war. Also, jedenfalls von Wert findet man da nichts, dadurch dass man heut schon überall die Sieberl hat im Waschbecken …“ Er bietet uns eine Zigarette an, wir lehnen dankend ab.
„Früher“, sagt der Pressereferent, während der Kanalarbeiter inhaliert, „da gab’s so eine Art Schatzsucher in der Kanalisation, die hat man ‚Strotter‘ genannt, von ‚strotten‘, das heißt aussortieren. Das waren Arbeitslose, Arme, die sind in den Kanal gegangen und haben gesucht, weil damals, nach dem Ersten Weltkrieg, da war ja schon eine Schraube wertvoll oder auch altes Fett!“ Herr Rosner bläst den Rauch aus: „Und wenn ich dazu etwas sagen darf, obwohl der Herr Krejci es natürlich besser weiß wie ich, also, die haben das damals sehr raffiniert gemacht – früher waren ja die Kanäle alle aus Ziegelsteinen gemauert –, und die haben sie teils rausgepeckt, also rausgestemmt, damit da das reinfällt, was vorbeikommt. Denn das Wasser rinnt drüber, und das Schwere bleibt hängen …“ Herr Krejci malt aus: „Wenn also jetzt die Baroness im Hotel Imperial ihren Brillantring heruntergenommen hat, dann war es im Bereich des Möglichen, dass der direkt hinuntergefallen ist in die Kanalisation, aber das geht heute wie gesagt nimmermehr durch unsere Waschbecken durch.“ „Wegen die Sieberln“, sagt Herr Rosner, „wir haben noch nie was gefunden bei unserer Arbeit.“ Unserer Bitte, etwas von sich zu erzählen, kommt er gerne nach: „Also, einmal bin ich Personalvertreter, da kommt etliches zusammen… als Nächstes bin ich Vorarbeiter, das heißt, ich bekomme eine Arbeitspartie, mit denen gehe ich raus, vom Chef gibt’s einen Zettel, POST sagen wir dazu, nehmen wir an, da steht 113, dann weiß ich, das ist der Abschnitt, den wir zu erledigen haben. Und das kann dann sein eine Schwemmpartie, also, das ist eine händische, oder eine Fasspartie. Bei der Fasspartie sind’s 6 Leute plus Lenker, und eine händische, eine Schwemmpartie, da sind wir 8 plus Lenker. Der Lenker ist natürlich nicht nur Chauffeur, sondern auch, wir sagen OBERER, weil er oben bleibt beim Kipper, zum Betätigen der Hebel und bei dem Kübel. Er muss genauso arbeiten, nur ist er halt oben und nicht unten. Die unten schieben mit dem SCHIMMEL, das ist ein Holzbrett mit Stiel, angepasst ans Profil, und mit dem schieben wir die Masse von einem Gitter zum nächsten. Außer, das Gitter liegt mitten im Gleis – bei uns fahren ja immer noch Tramwagen – also können wir mit dem Lkw dort nicht stehen bleiben und müssen dann halt das Paket, Packl sagen wir dazu, in einen Bereich transportieren, wo wirs besser rausnehmen können. Das wird dann mit dem Kübel raufgeholt, wird auf den Kipper geladen und in die EBS, also in die Entsorgungsbetriebe Simmering, geführt, dort wirds verbrannt.“
Herr Krejci nickt und sagt: „Wenn ich vielleicht noch ein paar Zahlen … Wir haben in Wien 2.200 km öffentlicher Straßenkanal, das wäre die Destination Wien–Madrid, dazu kommen noch mal 5.400 km an Hauskanälen, und insgesamt haben wir so 55.000 Kanalabdeckungen, also Gitter und Einstiege. 98 % der Haushalte sind bei uns inzwischen angeschlossen. Pro Tag fällt eine Abwassermenge von 550.000 m[3]an, das sind, müssen Sie sich vorstellen, etwa 2 Millionen randvoll gefüllte Badewannen im Vergleich. Es gibt in der Gruppe Kanalbetrieb ca. 500 Mitarbeiter – insgesamt sind wir in der MA-30, glaub ich, 720 Leute, also jetzt ALLES, von der Bedienerin bis rauf zum Abteilungsleiter – und von den 500 sind also 380 oder 400 solche, die im Kanal tätig sind, und die müssen jeden Tag rein, um ihre Arbeit zu verrichten – wir haben ja 80 % begehbare Kanäle, in Berlin sinds z. B. nur 20 % – und da wird natürlich auch mit moderner Technik gearbeitet. Handarbeit wird ausschließlich da eingesetzt, wo es aufgrund der Kanaleigenheiten mit Maschinen nicht geht. Herr Rosner zupft an seinem Ring im Ohr und sagt: „Ich muss aber gleich dazu sagen, bei uns gibt’s auch etliche kleinere Profile, also 1,50 Meter mal 70 mal 80, also, das ist kein Honigschlecken. Es gibt noch kleinere, da gehen wir auch rein, ja … es gibt sogar Situationen, wo du auf allen vieren gehen musst. SCHLIEFEN nennt man das dann …“ Herr Krejci sagt sonor: „Also, das ist eine ganz spezielle Angelegenheit, die kommt relativ selten vor, schliefbare Hauskanäle, die gibt es zwar noch, nur dass es sehr selten ist, dass wir da hineingehen. Aber prinzipiell, wie gesagt, ist eine breite Palette an Technik auch vorhanden.“ Herr Rosner zündet sich eine Zigarette an und sagt: „Ja, nein … es hat sich sehr viel zum Positiven geändert – muss ich fairerweise sagen …“
Herr Krejci erklärt: „Und aus diesem Grund hat sich dann natürlich auch das Image gehoben von den Kanalarbeitern. Wenn man sieht, die Partie kommt mit dem Hochdruckspülwagen – der arbeitet mit 80 bis 90 Atü, die Feuerwehr in Wien hat 7 bis 8 Atü, also, wir arbeiten mit dem zehnfachen Druck, wenn das SIE trifft, geht’s durch sie durch – das wird von den Leuten draußen ja beachtet. Aha, DIE sind’s. DIE von der Kanalisationsabteilung! Also, das Image hat sich gehoben, und was ich vielleicht noch dazu sagen möchte, es ist ja so, dass sich die Arbeiter untereinander sehr, sehr gut auch kennen, bei manchen, da sind schon Generationen bei uns. Die lernen sich kennen, heiraten, und der Sohn wird wieder Kanalarbeiter … Die gehn auch miteinander Fußballspielen, Tennisspielen, und das hat ja Tradition, der Arbeitersport …“ Auf unsere Frage, ob die Kanalarbeiter auch „rot“ waren, sagt Herr Rosner: „Oder sie sind’s noch … ich bin’s noch immer.“ Herr Krejci erklärt: „Das ist eine gewachsene Geschichte, die Arbeiterbewegung in der Republik Österreich, vor allem im Land Wien, sie war bei uns ja sehr, sehr stark und ist es noch immer …“ Herr Krejci ruft: „Ich meine, es heißt ja nicht umsonst ‚das rote Wien‘!“
Auf unsere Frage nach der Privatisierung kommunalen Eigentums sagt Herr Rosner entschieden: „Ja bloß nicht, hoffentlich!“ Herr Krejci erklärt: „Unsere jetzigen Politiker vertreten die Meinung, dass das nicht in Frage kommt, auch der Bürgermeister sagt das. Es hat so was bei uns ja schon gegeben. Schaun Sie, in den 20er-Jahren war die Wiener Kanalisation, die Reinigung der Kanäle, an Kontrahenten vergeben. Das hatte überhaupt nicht geklappt. Also wurden 1928 alle Betriebe von der Kommune aufgekauft. Seitdem ging es aufwärts. Nichts senkt die Leistungen und Arbeitsbedingungen so sehr runter wie eine Privatisierung. Der Generaldirektor muss ja Geld verdienen, der hat einen Vertrag – so kennt man’s doch von der Telekom – da kriegt er, wenn er gehen muss, 12 Millionen. Der genießt eine Dienstzulage, für die ein Arbeiter 200 Jahre arbeiten müsste … alles juristisch einwandfrei“, feurig: „Das ist gegen jede Ethik und Moral! Das ist meine persönliche Ansicht.“ Herr Krejci lodert, entschuldigt sich für einen Moment, sagt: „Sie können den Damen ja schon mal die Stiefelkammer zeigen“ und verschwindet.
Herr Rosner führt uns herum, zeigt uns die Teeküche mit Aufenthaltsraum für die Arbeiter, den großen gekachelten Duschraum, die Ladestation für die Stirnlampen, den Einsatzplan und die Stiefelkammer. Hier hängen in zwei Reihen übereinander die graubraunen schweren Lederstiefel der Arbeiter, oben die Halbstiefel, unten die langen Stulpenstiefel. Auf der Bank unter dem Stiefelgestell steht ein offenes Eimerchen, das nach Tran riecht. GUTRA LEDERFETT steht auf der Banderole. „Ein jeder Kollege, der von der Arbeit kommt, hat die Pflicht, seine Stiefel einzuschmieren“, sagt Herr Rosner streng, „die Holzschuhe dort ziehen wir an, wenn wir zum Baden gehen, und das hier ist Puder, den geben wir in die Stiefel hinein. Das da sind die SCHLIEF-Stiefel, also die Schliefer, sagen wir. Die sind für das, was der Herr Krejci gesagt hat über die Hauskanäle. So! Also, wenn ich auf einem Auto fahre, dann haben wir Halbstiefel an. Das ist unsere Latzhose, was ich anhab, und drüber kommt so ein Kittel mit Kapuze, der ist hinten geschnitten wie ein Frack, so ähnlich, damit man beim Einsteigen nicht den ganzen Dreck und die Spinnen … Am besten, ich zeig’s Ihnen mal, wie ich mich kleide. Ich brauche nur ein paar Minuten, dann bin ich fertig. Das ist die Gewohnheit.“ Er greift nach einem Paar hoher Stiefel, zieht die Schuhe aus und erklärt: „Als Erstes, ich bin gewickelt. So wie die Russen. Bevor ich reinschlüpf in den Stiefel, nehm ich den Stiefelfetzen, sagen wir dazu, der muss um den Fuß gewickelt werden wie ein zweiter Schuh. Das kann ich im Schlaf, dass keine Falte drin ist, denn eine Falte, die spürst du den ganzen Tag, die reibt dich auf und du hast Schmerzen …“ Herr Rosner demonstriert uns das Wickeln. Ein Arbeiter kommt zur Tür herein und ruft dröhnend MAHLZEIT.
„MAHLZEIT“, sagt Rosner und fährt fort, „wie ich angefangen habe, hab ich natürlich schlecht gewickelt, da hat’s Blasen gegeben. So, jetzt geb ich in diese Aufziehstiefel den Puder, dann schlüpf ich rein und kann den Schaft jetzt unten lassen, dann gehn sie bis zum Knie, oder ich roll ihn rauf, dann gehn sie bis zum Ende vom Oberschenkel. Das sind meine. Ein Paar von denen wiegt ca. 7 Kilo. Unterhalb sind Nägel an den Sohlen, für den besseren Halt im Wasser. Alles ist aus Leder, auch die Sohle. Gummistiefel wurden mal ausprobiert, aber das war nichts, da geht Glas durch und Nägel, hier nicht. Ich zieh den Schaft mal rauf. Schaun Sie, das ist dick, aber geschmeidig. Es ist Kuhleder, und zwar Halsleder. Das ist das weichste Leder, das beste. Wir stehen ja 7 bis 8 Stunden in den Stiefeln, da muss das halten. Jeden Montag kommt unser eigener Schuster und schaut sich die Stiefel an, ob was zum Richten ist. Der Ledergürtel hier ist auch vom Schuster, der ist deshalb so weit, damit wir da allerhand befestigen können. Am Anfang kriegst du einen ganz weiten und nach ein paar Jahren … Na ja, man wird dicker … Und dann kommt da noch die Kopflampe auf die Stirn, hier am Gürtel ist der Akku, und hier trage ich meinen Spediteurhaken, mit dem öffne ich so die kleinen Kanalgitter. Jeden Montag bekommen wir frische Wäsche von unserem Aufseher, also, wir haben hier wirklich alles – muss ich fairerweise sagen.“ Fertig gekleidet geht er mit uns hinaus in den Hof. Er sieht aus wie ein Musketier. Herr Krejci erwartet uns bereits, er will uns in der Stadtmitte die alte Kanalisation zeigen.
Als wir am Nachmittag zurückkommen, um mit Herrn Rosner nach Hause zu fahren, haben wir mit Herrn Krejci die Kanäle besichtigt, in denen Orson Welles 1949 im berühmten Film „Der dritte Mann“, in der Rolle des Penicillinschiebers Harry Lime, zu Tode gehetzt wird. Für Touristen gibt es Historisches und eine kleine Show mit Schauspielern, Schüssen, Schreien; ausgedacht von Herrn Krejci. Mir wäre eine Besichtigung ohne Show viel lieber gewesen, dann hätte man mehr von dem Rauschen, Tropfen und Gluckern der Flüssigkeiten gehört.
Herr Rosner bittet uns in seinen feuerroten Mercedes. Er wohnt nicht weit, im 3. Stock einer grauen Gemeindebauanlage in der Simmeringer Hauptstraße. Es gibt einen Aufzug, die Wohnung hat drei Zimmer, Balkon, und liegt hinten hinaus, zur ruhigen Seite hin. Wir werden von seiner Lebensgefährtin und einem rot getigerten Kater namens Merlin freundlich begrüßt. Das Paar zeigt uns seine Wohnung. Das Wohnzimmer hat graublaue Wände mit einem zarten weißen Streifen zur Decke hin, eine Schrankwand mit Glasvitrine und Bücherregal, TV, eine dunkelblaue Couch- und Sitzgarnitur aus Leder, vor der eine nackte Liegende mit Rauchglasplatte den Couchtisch bildet. Durch eine Bogentür gelangt man ins Esszimmer, in dem ein großer Tisch für gesellige Anlässe steht, und eine wohlsortierte Hausbar mit Tresen und Barhockern. Auf das Badezimmer, „nichts vom Profi gemacht, alles Handarbeit“, ist man besonders stolz. Es ist silbrigweiß gekachelt, hat neben der Dusche eine große Whirlpool-Eckbadewanne und eine Lichtsäule für die unterschiedlichen Beleuchtungswünsche. Daneben liegt die kleine Küche. „Das Schlafzimmer wird ja nicht so interessieren“, sagt Herr Rosner vorsichtig, aber seine Lebensgefährtin besteht geradezu darauf, dass wir es sehen. Sie öffnet die Tür. Der Blick fällt auf ein großes, komfortables Polsterbett mit eingebautem Radio und abgerundeten Kanten. Sie schließt die Tür. Herr Rosner deutet auf ein Gerät im Flur: „Und das ist eine Bespannungsmaschine für meine Tennisschläger.“ Nobel, sagen wir, und werden ins Esszimmer gebeten, bekommen Getränke eingeschenkt und erfahren, dass die Wohnung inklusive Heizungseinbau von den beiden selbst hergerichtet wurde und so um die 270 Euro an Miete kostet.
„Ich hab früher ja Fußball gespielt, bei der Austria Wien, ein sehr hoher Club, aber mit 28 ist es mit den Füßen nimmer gegangen, da haben Freunde gesagt, probier des doch mal … ich hab gesagt: geh, ich bitt dich, Tennis … Aber dann hab ich’s doch probiert und war dann wie besessen davon. Bis heute.“ 25 Tennispokale stehen auf dem Regal. „Was ist eigentlich mit dem Diamanten im Ohr und mit dem Ohrring?“, fragen wir. „Vor 15 Jahren, da hat mir das gefallen, damals habe ich zwei Ringe getragen. Heute tragen das ja fast alle, Ringerln im Ohr, ich red jetzt von uns Kanalarbeitern. Es gibt fast keinen, der das nicht trägt. Das gehört irgendwie dazu.“ Der Kater Merlin geht zur Attacke auf meine Hand über, beißt spielerisch in die Fingerspitze und widmet sich dann Elisabeths Kamerariemen. Wir bitten Herrn Rosner einfach mal den normalen Arbeitstag eines Kanalarbeiter zu beschreiben. Er hebt lächelnd die Brauen und beginnt zu erzählen:
„Ich fahre in der Früh in den Hof, parke mein Auto und schau innen auf der Tafel nach, was ich und die 45 Mann machen werden an diesem Tag. Dann trinken wir erst mal Kaffee, dann muss geplaudert werden, dann teile ich die Leute ein. Dann machen wir alles fertig. Als Vorarbeiter muss ich wissen, was gebraucht wird, erst dann steigen wir aufs Auto. Sagen wir, es ist dran 1. Bezirk, Wipplingerstraße. Als Erstes ist wichtig das Absichern mit Tafeln, Blinkanlagen. Dann wird das Gitter aufgemacht, und da muss, nach neuem Gesetz, ein Dreibein über die Öffnung gestellt werden, zur Sicherung gegen den Absturz der Kollegen, denn die Steigeisen schwitzen, sagen wir, oder sind vielleicht morsch. Als Erstes kraxelt dann einer runter mit dem Gasspürgerät, und wenn’s nichts anzeigt, dann kann der zweite runter. Die durchschnittliche Tiefe ist vielleicht 14 Meter, es gibt auch Kanäle, da sind’s nur 2 Meter bis hinunter. Drinnen ist es natürlich dunkel, dazu hast du deine Kopflampe, und von der letzten Sprosse aus steigst du dann praktisch ins Wasser oder in den Schmutz oder z. B. in Schotter. Du steigst, wie wir sagen, ins Material. In der Regel bist du dann schon mal in gebückter Haltung in den kleineren Profilen, und das sind die hauptsächlichen Profile. Das ist anstrengend und geht aufs Kreuz. Die Schaufel, die kommt mit dem Kübel runter, aber deinen Schimmel, den musst du selber mit runternehmen. Das geht alles. Dann sagt der erste Mann: ‚Ich setze an‘ … man kann’s eigentlich mit den Füßen fühlen, was da los ist … der macht den ersten Schub, dann kommt der nächste, macht den nächsten Schub. Sollten die zwei Schübe genügen, sodass der Schmutz weg ist, dann sagt der Mann: ‚Es genügt.‘ Du bist immer mindestens zu zweit, nie allein, das wäre zu gefährlich. Und du gehst immer mit dem Wasser, wenn du gegen das Wasser gehst, wirst du waschelnass und auch sonst … wenn du mit dem Schimmel am Grund entlangschiebst, kommt hinter dir schon das Wasser nach. Wir sagen dazu aufrühren, ein bissl Kraft braucht man schon als AUFRÜHRER …“ Er lacht.
Merlin umkreist schnurrend unsere Beine. „Na ja, da kommt meist ein ganz schönes Häuflein zusammen. Das Gitter, wo wir einsteigen, das heißt Vorkopf, das nächste Gitter, wo wir’s hinschieben, ist 80 bis 100 Meter entfernt, dort wird das Material dann ausgefasst, wie wir sagen. Also, wir schaufeln es in den Eimer rein, rufen ‚fertig‘ und treten ins Profil zurück, solange der Eimer hochgezogen wird, denn es könnte ja was herabfallen. Der Obere, der schüttet aus und ruft ‚Achtung, Kübel‘, damit wir wissen, es kommt was. Wenn der steht, können wir wieder raustreten aus dem Profil. Das Ausfassen dauert eine halbe Stunde, manchmal 4 Stunden. Wir ziehen so um die 45 Kübel rauf! Das sind ungefähr 3 Kubikmeter. Einen Sauger haben wir auch, der rüsselt alles ein, Schotter und Geröll, ganze Zieglsteine saugt der rauf. Und der ist nicht mal laut. Wien ist ja anders, in jeder Schrift steht das. Es war auch mal anders, da haben sie mit Paradeisern auf uns geschossen, die Bürger, weil der Sauger nachts Lärm gemacht hat. Aber dann wurde ein Test gemacht, die Wiener Philharmoniker sind eingeladen worden, im Stadtpark hams spielen müssen, dabei ist der Sauger eingeschaltet worden – nein, das ist kein Witz –, und man hat sie trotzdem noch spielen gehört. Das haben sie sogar im Fernsehen gezeigt. Na ja, und was ich davor erzählt habe, das ist unser Alltagsgeschäft. Es kommen dazu noch die Senkgruben in Kleinsiedlungen, Schrebergärten, man ist eigentlich jede Woche woanders. Aber es ist ja alles viel besser geworden, z. B. der Schlachthof war früher schlimm, den gibt’s ja fast nicht mehr, der ist ja aufgelassen. Das Fleisch kommt herein nach Wien, fertig zerlegt. Früher war’s arg am Schlachttag, montags z. B., weiß ich noch heute“, er spricht ganz leise, „alles voller Blut unten im Kanal, furchtbar. Heut dürfen, glaub ich, die Juden noch dort schlachten und die Araber, die sind, glaub ich, die Einzigen im Marxer Schlachthof … also, damit haben wir heute kein Problem mehr …“
Merlin putzt sich mit geschlossenen Augen. „Mein Bruder ist ja auch dabei“, sagt die Lebensgefährtin, die Abteilungsleiterin einer Versicherung ist. „So haben wir uns vor 12 Jahren ja kennen gelernt“, ruft Herr Rosner heftig aus und wirft sehr wohlwollende Blicke auf die Frau. „Das war halt so“, sagt sie lächelnd. Wir fragen, ob es Vorurteile gibt. „Eigentlich nicht“, sagt sie. „Es sind jetzt die Vorurteile gegenüber Beamten viel tiefer gehend als gegen Kanalarbeiter.“ „Du darfst nicht vergessen“, sagt Herr Rosner trocken, „dass ich pragmatisiert bin, ich bin Beamter! … Und ich hoffe, dass ich dann reinfalle ins Schwerarbeitergesetz, damit ich mit 55 in Pension gehen kann.“
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