„Die Pflegeversicherung ist in der Regel unbekannt“

Zuwanderer müssen besser über die Gesundheitsfürsorge im Alter informiert werden, meint Hayrettin Aydin vom Zentrum für Türkeistudien in Essen

taz: Herr Aydin, Sie sind selbst in der Türkei geboren und kamen kurz nach Ihrer Geburt nach Deutschland. Werden Sie im Alter in Ihre Heimat zurückkehren?

Hayrettin Aydin: Bei mir ist es noch weniger wahrscheinlich, dass ich zurückkehre, als bei den Migranten der ersten Generation. Sie müssen bedenken, dass selbst die ältere Generation durch die Kinder und die Enkelkinder sehr stark an Deutschland gebunden ist. Hinzu kommt natürlich auch der Faktor der besseren Versorgung in Deutschland, der viele dazu bewegt, nur temporär in der Türkei zu leben.

Wie viele der Migranten kehren überhaupt in ihre Herkunftsländer zurück?

Es gibt keine Erhebungen über die Rückkehrer nach der Verrentung. Ich vermute, dass höchstens zehn Prozent der alten Zugewanderten zurück in ihre Heimat gehen.

Deutsche Rentner klagen häufig über zu niedrige Renten. Wie ist die finanzielle Situation der Senioren, die vor 30 Jahren in Deutschland eingewandert sind?

Die sind natürlich auch über die Rente abgesichert. Das Problem ist nur, dass die durchschnittliche Rente bei Zuwanderern in vielen Fällen niedriger liegt. Diese Menschen sind oft erst im Alter von dreißig Jahren hierher gekommen, die Zahl der Arbeitsjahre, nach denen sich die Rente berechnet, ist dadurch natürlich niedriger.

Sozialarbeiter klagen, dass Migranten die Pflegeversicherung, die die finanziellen Risiken von altersbedingten Krankheiten abmildern soll, nicht ausreichend nutzen. Können Sie das bestätigen?

Ja, das liegt daran, dass die Pflegeversicherung in der Regel unbekannt ist. Faktisch wird die Versorgung meist ehrenamtlich von der Familie getragen.

Was bedeutet das für die betroffenen Familien?

Die Leute können einfach die finanziellen Möglichkeiten nicht nutzen, auf die sie durch ihre Beiträge in die Pflegeversicherung Anspruch haben. Wir wissen aus zahlreichen Familien, dass die erste Generation gesundheitlich sehr belastende Arbeiten geleistet hat. Bei diesen akuten Pflegefällen sind die Familien sicher völlig überfordert.

Wie kann die Situation verbessert werden?

Es wäre geboten, dass in Form von Pressearbeit oder Broschüren in den Heimatsprachen der Migranten über die Pflegeversicherung aufgeklärt wird. Dann sollte man sich auch Gedanken über die stationäre Pflege machen. Eine flächendeckende Versorgung von Migranten in Alten- und Pflegeheimen ist natürlich illusorisch. Aber es gibt durchaus Konzentrationen von Migranten im Ruhrgebiet oder in Berlin, wo es Sinn macht, dass man in bestehenden Einrichtungen Kontingente ausschöpft. Denn bis jetzt werden die kulturellen und religiösen Besonderheiten in keiner Weise berücksichtigt. Da mangelt es zum einen an Bewusstsein für diese Zielgruppe und zum anderen an qualifiziertem Personal.

Private Pflegedienste könnten die Pflege der Familien unterstützen. Haben sie sich auf die alten Ausländer eingestellt?

Da gibt es bislang nur einige Anbieter, die sich bewusst dieser Gruppe annehmen. Mir sind einzelne Fälle bekannt von Pflegediensten, die von Migranten selbst gegründet wurden und betrieben werden und die auch bewusst Menschen mit Migrationshintergrund ausbilden und einstellen. Insgesamt hat man nur einen Flickenteppich, mit ein paar Angeboten in Hamburg, Berlin und dem Ruhrgebiet.

INTERVIEW: NADIA LEIHS

Hayrettin Aydin (40), Historiker und Turkologe, ist seit zwei Jahren wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Türkeistudien (ZfT) in Essen. Das ZfT erforscht seit seiner Gründung 1985 vorwiegend die Situation von Arbeitsmigranten in Deutschland, u. a. auch im Auftrag der Bundesregierung und des Landes Nordrhein-Westfalen. Die neueste Ausgabe der Zeitschrift AID – Ausländer in Deutschland hat Migration und Gesundheit zum Thema. Zu beziehen über isoplan, Tel. (06 81) 9 36 46-0, aid@isoplan.de, www.isoplan.de/aid