Holzbock müsste man sein

Das hört sich ja völlig unglaubwürdig an, jeder wird denken, jetzt wird einfach die Logik mit Füßen getreten. Aber es stimmt trotzdem: Wie ich mal am 1. Mai mit einem Nazi am Lagerfeuer gesessen, Würstchen gegrillt und Volkslieder gesungen habe

„He, lass uns doch noch bleiben, ein bisschen Hautkrebs provozieren“

von ROBERT NAUMANN

Liege auf einer Decke mitten im märkischen Kiefernwald. Ja, ich weiß, dass heute Kampftag der Arbeiterklasse ist. Junge und alte Rebellen gehen zur Demo und kloppen sich mit den Gesetzeshütern rum. Sollte eigentlich dabei helfen. Bin ja auch gegen das System an sich und überhaupt. Aber gerade heute bin ich in so einer Stimmung, dass ich mich für ein paar Stunden durchaus mit dem System arrangieren kann. Hier im Wald sowieso. Ist schön hier im Wald. Sogar mit meiner Frau vertrage ich mich wieder. Wir haben uns vorhin gestritten. Ich suchte eine Kopfbedeckung, wegen der Holzböcke und meine Frau meinte, das sei Unfug, ich solle lieber drauf achten, Socken anzuziehen.

Es gab eine ziemlich kontrovers geführte Auseinandersetzung um die Frage, wo sich Holzböcke im Allgemeinen aufhalten. Während ich der Meinung bin, dass Holzböcke sich von Bäumen herabfallen lassen, tendiert meine Frau eher dazu, dass die kleinen Blutsauger sich im Unterholz langsam an ihr Opfer heranpirschen, es dann blitzartig anspringen und sich wie ein Pitbull derart verbeißen, dass die einzige Möglichkeit, lebend davonzukommen, die wäre, die betreffende Stelle mit einem Skalpell großzügig herauszuschneiden. Dann fügte sie noch gönnerhaft hinzu, dass meine Theorie nicht ganz falsch sei (danke liebe Frau!), aber dass die Holzböcke mit der von mir favorisierten Angriffsstrategie lediglich in Nordosteuropa beheimatet seien, während dagegen der mitteleuropäische Holzbock sich eben durch seine besondere Aggressivität auszeichne. „Wieder ein Grund mehr, auszuwandern“, dachte ich. Nach Nordosteuropa am besten, zu den phlegmatischen Holzböcken, die mir wesentlich symphatischer sind. Wenn ich mal wiedergeboren werde, dann bitte als nordosteuropäischer Holzbock. Den ganzen Tag auf dem Baum sitzen und Warten als einzigen Lebenszweck, wunderbar. Erinnert mich an meine ABM-Stelle damals in Marzahn.

Apropos Marzahn. In Hellersdorf lesen vielleicht gerade just in diesem Moment die Kleinkünstlerkollegen Dan und Andreas in einer Kulturbegegnungsstätte vor. Oder werden von Nazis verkloppt. Alles nicht unbedingt Dinge, derentwegen ich fröhlich jauchzend „juchhu!“ ausrufen würde. Beinahe wäre ich jetzt auch da. Habe aber abgesagt, um im Wald liegen zu können. Gott sei Dank, kann ich da jetzt nur sagen. Hier im Wald sind keine Nazis. Auch wenn es Brandenburger Wald ist.

Wenn jetzt aber einer vorbeikommen würde, womöglich mit unangeleintem Kampfhund und bewaffnet mit einer abgesägten Schrotflinte und, um dem Ganzen noch ein delikates Sahnehäubchen aufzusetzen, extrem schlecht gelaunt, ich glaube, dann würde ich erst mal versuchen, mit ihm zu reden. „Na, auch Brandenburger?“, würde ich ihm freundlich zurufen und ihm so den Wind aus den Segeln nehmen. Er kann ja nicht wissen, dass wir Berliner sind. Wenn er dann auf uns zukommt, wahrscheinlich sich noch nicht ganz im Klaren, was er von uns halten soll, kraule ich seinen Hund hinter den Ohren und sage: „Is ja ein ganz Süßer! Wie heißt er denn?“ „Anja“, knurrt der Nazi, aber es ist so ein sympathisches, aufgeschlossenes Knurren, „Anja wie meine Freundin.“ Na, jetzt wird er schon privat. Meine Deeskalationsstrategie geht voll auf. Jetzt noch an der richtigen Stelle angesetzt, zum Beispiel: „Nein, das gibt’s doch nicht!“

Es ist nicht mehr weit, bis man gemütlich beim Lagerfeuer zusammensitzt, Würstchen grillt und nach ein paar Bieren gemeinsam Volkslieder grölt. Die Frage ist, ob ich das überhaupt will. Nachher sieht mich einer, der mich kennt, und erzählt überall rum, ja, der Naumann, was der am 1. Mai gemacht hat, das glaubt ja keiner, sitzt mit so ’nem Nazi am Lagerfeuer und singt Volkslieder. Das wäre mir nicht unbedingt angenehm. Aber zum Glück brauche ich mir da keine Sorgen zu machen. Hier im Wald, das wäre ja so ziemlich das Unwahrscheinlichste, dass sich ein Nazi hierher verirrt.

Inzwischen fühle ich mich wie ein Wiesenhof-Hähnchen bei Uschi’s Imbiss. Uschi’s natürlich mit Apostroph. Meine Haut könnte man als „krebsfarben“ bezeichnen, wobei mir soeben die Doppeldeutigkeit bewusst wird. Aber so ein bisschen Hautkrebs kann mich überhaupt nicht jucken. Im Gegenteil, das macht sich immer gut in der Biografie: Mai 2001 – Erkrankung an Hautkrebs. Juni 2001 – Beginn des Romans „Brennpunkt Buchholz“.

Juli 2001 – erster von mehreren nachfolgenden Krankenhausaufenthalten, Arbeit am Roman „Brennpunkt Buchholz“ vorläufig eingestellt. Klingt doch gar nicht übel. Der Hautkrebs gibt dem Ganzen die richtige Würze, ohne ihn wäre das eine total uninteressante Biografie. Da würde dann stehen: Juni bis November 2001 – Arbeit am Roman „Brennpunkt Buchholz“. So eine Biografie will kein Mensch lesen.

Ich glaube, der einzige Mensch, der so eine langweilige Biografie lesen würde, ist meine Frau, die jetzt gerade die Sachen zusammenpackt. Ich protestiere: „He, lass uns noch bleiben, ein bisschen Hautkrebs provozieren, denk doch mal an meine Biografie, da muss Action drin sein, sonst lesen das die Leute nicht.“ Sie sieht nicht so aus, als ob sie versteht, wovon ich rede. „Hilf mir mal“, sagt sie ungerührt und hält mir die Decke zum Ausschütteln hin. Na. was soll’s. Ich helfe ihr einpacken. Vielleicht steht ja dann in der Biografie: knapp an Hautkrebserkrankung vorbeigeschlittert, was auch nicht so ganz schlecht klingt.

Auf dem Weg zur S-Bahn kommt uns jemand entgegen, und ich traue mich gar nicht, das zu sagen, es hört sich ja auch völlig unglaubwürdig an, und jeder wird denken, ah! aus dramaturgischen Gründen wird jetzt einfach mal die Logik mit Füßen getreten, jedenfalls kommt uns ein Nazi entgegen. Ohne Schrotflinte zwar, aber offensichtlich megamäßig übel gelaunt. Immerhin ist sein Kampfhund angeleint.

„Einfach ganz normal weiterlaufen, flüstert mir meine Frau ins Ohr. Aber ausgerechnet in das Ohr, auf dem ich noch schlechter höre als auf dem anderen. „Kannst mir ja nachher sagen, was du wolltest“, erkläre ich meiner Frau, und dann rufe ich dem Nazi zu: „Na, auch Brandenburger?“

Ein kleines Zipfelchen meines Verstandes hofft, dass es vielleicht so ein linker Skinhead ist, dann wäre auch die Sache mit dem Lagerfeuer in Ordnung. Könnte keiner meckern. Aber meine Hoffnung bewegt sich auf sehr dünnem Eis, denn auf der Stirn des Skinheads ist ein großes Hakenkreuz eintätowiert. Jetzt macht er die Leine von seinem Kampfhund los und ruft: „Los, Anja, fass!“ Blitzartig kommt mir eine Idee. Ich reiße den Arm hoch zum Hitlergruß, und tatsächlich, der Hund bleibt stehen und guckt unentschlossen zu seinem Herrchen. Was mag in seinem kleinen, dummen Schädel vorgehen?

Der Nazi kommt immer näher. Aus seiner Bomberjacke holt er einen länglichen Gegenstand raus, der einer abgesägten Schrotflinte zum Verwechseln ähnlich sieht. Täuschend ähnlich. Die Ähnlichkeit ist sogar, ich möchte sagen, nicht mehr als Ähnlichkeit zu bezeichnen. „Moment mal“, rufe ich, „mach kein’ Scheiß, lass uns miteinander reden, hast du ’ne Freundin, wie heißt ’n die, erzähl mal!“

Der Nazi ist entweder taub oder Ausländer oder will mich einfach nicht verstehen. Wobei ich letztere Theorie jetzt mal fallen lasse wie eine heiße Kartoffel. Eiskalt legt er seine Flinte an. Plötzlich schreit er auf, lässt die Flinte fallen und greift sich mit den Händen an den Kopf. Er brüllt wie ein Stier: „Aua, Scheißholzböcke, das tut so weh!“

Streng gucke ich meine Frau an. „Was hast ’n du da erzählt, stimmt doch gar nicht, die sitzen ja doch auf’m Baum.“ Sie erzählt mir irgendwas von gewaltiger Sprungkraft, aber ich hör gar nicht mehr hin, sondern kümmer mich um den armen Nazi, der wie ein kleines Kind auf der Erde sitzt und weint. Versteckt sich hinter seiner gewalttätigen Maske gar ein hochsensibler Charakter? Wir nehmen ihn mit nach Hause, wo meine Frau sich skalpellbewaffnet an die Arbeit macht, während ich im Garten rasch ein kleines Feuerchen entfache. Es wurde dann noch ein sehr schöner Abend mit tollen Gesangseinlagen. Der Nazi hatte eine glockenhelle Stimme, die man bei seinem martialischen Äußeren gar nicht vermutet hätte.