„Wahl kann man links verlieren“

Interview EBERHARD SEIDEL

taz: Am Wochenende verabschieden die Grünen ihr Wahlprogramm. Wird das die Chancen auf eine Fortführung der rot-grünen Koalition erhöhen?

Daniel Cohn-Bendit: Ja, wenn die Grünen glaubhaft erklären können, warum es Sinn macht, das rot-grüne Projekt um vier Jahre zu verlängern. Dazu müssen sie aber deutlich machen, dass der Atomausstieg bei einem Regierungswechsel rücknehmbar ist. Dass es bei aller Kritik an Innenminister Schily einen Unterschied macht, ob die Umsetzung des Einwanderungsgesetzes in seinen Händen liegt oder allein von Günter Beckstein verantwortet wird.

Das werden die Grünen sicherlich hinreichend darstellen. Aber mit welchen Argumenten könnten die Grünen bei Globalisierungsskeptikern, die sich überall in Europa nach rechts wenden, punkten?

Das Problem der Grünen ist, dass sie zwar sagen, dass Globalisierung irgendwie ungerecht ist und irgendwie ökologisch gestaltet werden muss. Und irgendwie steht das alles auch in den Programmen. Sie sagen aber nicht, welche konkreten Reformen der Institutionen – und nicht nur die der UNO, sondern auch der Weltbank, des Weltwährungsfonds (IWF) und der Welthandelsorganisation (WTO) – erfolgen müssen, damit die Regulierung hin zu einer gerechteren und damit sozialeren Globalisierung gelingt.

So einfach geht das?

Nichts ist einfach. Erst mal müssten die Grünen feststellen, dass es eine klare Vorstellung gibt, wie die Welt organisiert wird. Das ist die Vorstellung, der Markt reguliere sich von selbst, er definiere seine Ziele und finde zu einer marktgerechten Vernunft. Das ist die neoliberale Religion. Diese neoliberale Religion hat ein politisches Instrument und hat eine politische Vertretung, dessen Zentrum in Amerika sitzt. Das ist weder Bösartigkeit, noch stellt es die transatlantische Beziehung in Frage. Es ist schlicht eine Feststellung.

Da sind wir bei Ihrer Lieblingsidee, es gebe nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus keine „checks and balances“ mehr in der Welt, weshalb Europa das Gegengewicht zum neoliberalen, amerikanischen Modell sein müsse. Sollten die Grünen das Projekt „Emanzipation von den USA“ offensiver verfolgen?

Ja – und das muss auch in das Programm rein: Wir wollen, dass Europa eine sozial-ökologische Alternative zur neoliberalen Globalisierung unter der Dominanz Amerikas wird. Wir wollen eine gerechte Globalisierung mit fairem Handel, damit die Entwicklungsländer eine Chance haben. Und man muss angeben können, wie Europa soziale und ökologische Mindeststandards formulieren kann, um Globalisierungsverlierer in dieses Projekt einzubeziehen. Dann kann man auch sagen: Weil wir das wollen, ist es entscheidend, ob Fischer oder Westerwelle Außenminister wird.

Außer Jürgen Trittin bei den Klimaverhandlungen ist bislang kein rot-grüner Minister dem Dominanzgebaren der USA all zu selbstbewusst entgegengetreten. Noch vor einem dreiviertel Jahr haben Sie beklagt, Joschka Fischer und die Grünen müssten sich stärker der Globalisierungskritik zuwenden und die Arroganz der Herrschenden ablegen.

Die Grünen sollten mit einer politischen Reflexion ihres Programms beginnen. Warum können sie nicht sagen: Bislang haben wir uns rein pragmatisch mit Folgen der Globalisierung wie zum Beispiel der Schuldenproblematik auseinander gesetzt. Aber erst die Globalisierungskritik, die Massenbewegung von Seattle bis Genua und Barcelona, hat die politischen Bedingungen geschaffen, um die Frage der Regulierung der Globalisierung schärfer, radikaler und klarer zu stellen. Wir Grüne, auch in der Regierung, haben lange nicht gesehen, dass wir in eine neue Phase treten. Deswegen müssen wir uns jetzt überlegen, wie wir eine reformistische Politik zur Veränderung der Globalisierung entwerfen können. Da sind Ansätze, wie sie der Nobelpreisträger Stiglitz in seinem Buch „Die Schatten der Globalisierung“ formuliert. Dessen Buch ist das perfekte Handbuch für Attac-Mitglieder und grüne Regierungsvertreter.

Und worauf könnten sich Attac- und grüne Regierungsmitglieder einigen?

Auf das, was Stiglitz sagt: Die Globalisierung und die Öffnung der Märkte bieten irrsinnige Chancen und wir brauchen Institutionen wie die Weltbank und die WTO. Allerdings müssen sie anders handeln. Wenn der IWF nur das Ziel hat, wie in Thailand oder Argentinien Währungen zu stabilisieren, dann trägt dies zum Zusammenbruch der ganzen Wirtschaft bei, zur Ausfuhr von Finanzen, nicht aber zur Entwicklung. Es ist also entscheidend, wer die Politik innerhalb des IWF bestimmt.

Ja, wer?

Die Grünen sollten sagen: Wenn wir wieder gewählt werden, werden wir die EU drängen, ihre Beiträge zum IWF gemeinsam als Eurowährung einzubringen. Das hätte zur Folge, dass die Euroländer die stärkste beitragszahlende Gruppe im IWF werden – stärker als die USA. Dann könnte die Politik des IWF wirklich beeinflusst werden. Zweitens sollten die Grünen fordern, Schwellen- und Entwicklungsländer am Entscheidungsprozess des IWF zu beteiligen – verflochten mit einer Debatte um die Demokratie in diesen Ländern. Der IWF muss sich dieser Diskussion stellen. Ähnliches kann man auch für die Weltbank und die WTO durchdeklinieren.

Wenn das alles mehr als die Privatmeinung des Internationalisten Daniel Cohn-Bendit sein soll, müssten die Grünen eine andere Partei werden.

Bei den Grünen und auch in ihrem Wahlprogramm ist vieles drin. Aber noch ist es nicht zu einer Strategie gebündelt. Da ist ein echtes Manko. Es mag ja stimmen, dass man Wahlen in der Mitte gewinnt, aber wenn man als Wahlvolk nur die Mitte hat, kann man eine Wahl auch links verlieren. Ich habe den Eindruck, dass die Parteiführung sich verbunkert. Das ist ein Fehler der deutschen Grünen, die bei allen Landtagswahlen der letzten vier Jahre verloren haben. Denn es gibt Beispiele in Europa, wo die Grünen stark gewonnen haben. In Frankreich und Belgien haben sie die Themen soziale Gerechtigkeit im nationalen wie internationalen Kontext mit dem Thema der ökologischen Vernunft zusammengebracht. Das hat funktioniert.

Warum verfolgen die deutschen Grünen diese Strategie nicht?

Die Grünen haben sich in vielen Bereichen wie zum Beispiel beim Atomausstieg und beim Staatsangehörigkeitsrecht beachtlich geschlagen. Trotzdem werden sie stark kritisiert – von innen wie von außen. Das ist eine schwierige Situation und sie schirmen sich dagegen ab. Das halte ich für einen Fehler. Denn die Wahl in der Bundesrepublik wird in der Auseinandersetzung zwischen meinen Positionen und beispielsweise denen von Oswald Metzger entschieden. Wenn die Grünen die Debattenfähigkeit verlieren und die Fähigkeit, eine Politik mit Fragezeichen zu formulieren, dann sind sie kein reformistisches, sondern nur noch ein pragmatisches Projekt. Sie haben offensichtlich Angst, dass Positionen sichtbar werden, die nicht sattelfest sind. Aber diese scheinbare Sattelfestigkeit reicht doch nur bis zum Wahltag. Danach experimentiert man herum.

Mit keinem Thema, das Sie vorschlagen, wollen die Grünen im Wahlkampf offensiv punkten …

… doch in einem Punkt werden sie in die Offensive gehen – Kinder, Familienpolitik.

Das ist aber kein Thema, das Ihnen bislang am Herzen lag.

Warum? Das Thema ist doch wunderbar. Wenn wir die Ergebnisse der Pisa-Studie ernst nehmen, dann ist klar: Wir haben ein Schulsystem, das unter den Bedingungen der sozialen Ungleichheit nicht fähig ist, Bildung für alle zu garantieren. Deshalb brauchen wir eine völlige Umwälzung der Schulen hin zu Ganztagsschulen. Die Schulen müssen Aufgaben der Familien übernehmen. Denn die können aus unterschiedlichsten Gründen vieles nicht mehr leisten.

Was Sie fordern, wird allerdings nicht billig.

Ja, das bedeutet eine riesige Investition von mindestens zehn Milliarden Euro. Und die Grünen müssen umdenken. Denn sie können nicht auf der einen Seite die Steuern senken und auf der anderen Seite die notwendigen staatlichen Aufgaben ausbauen wollen.

Dazu kommt: Wenn man die Einwanderergeneration, die wir aufgrund der verfehlten Schulpolitik nicht mehr erreichen, wirklich zurückholen möchte, wenn man alle Kinder in Deutschland spätestens bis zur vierten Klasse auf einem brauchbaren sprachlichen Level haben will, dann braucht man in den Großstädten in mindestens einem Drittel der Klassen zwei Lehrer. Allein dies zu formulieren wäre Aufgabe der Grünen, wenn es ihnen wirklich um Kinder- und Familienpolitik ginge.

Sie beziehen sich auf die Problematik unserer entwickelten Einwanderungsgesellschaft. Die Grünen aber verfolgen mit ihrem Projekt Kinder ganz andere Ziele.

Das sollen sie auch machen. Aber politisch muss das Wahlprogramm trotzdem sein.