: Kritik an Abi-oder-nichts-Regel
Thüringer GEW, Lehrerverband und Schülerinitiative wollen, dass gescheiterte Abiturienten andere Schulabschlüsse wie die mittlere Reife bekommen
aus Erfurt und Berlin BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA und CHRISTIAN FÜLLER
In Thüringen mehren sich die Stimmen, die eine Überprüfung des Landesschulgesetzes anmahnen. Eine Erfurter Schülerinitiative und diverse Lehrerverbände wollen, dass gescheiterte Abiturienten alternative Schulabschlüsse zuerkannt bekommen. Anders als in anderen Bundesländern erhalten Schüler in Thüringen zunächst keinen Abschluss, wenn sie das Abitur verfehlen. Der Erfurter Amokschütze Robert Steinhäuser war in dieser Situation: Er stand nach seinem Scheitern am Gymnasium mit leeren Händen da.
„Es ist höchste Zeit, dass Thüringen endlich die Regeln anderer Bundesländern übernimmt“, sagte der Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Jürgen Röhreich, der taz. Auch der Bundesvorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, sagte: „Ich empfehle Thüringen, es so zu praktizieren wie die anderen Bundesländer.“ In Bayern und Nordrhein-Westfalen etwa haben Gymnasiasten mit Erreichen der 11. Klasse automatisch die mittlere Reife, Baden-Württemberg verlangt dafür vorsorglich eine Prüfung. Erfurter Gymnasiasten wollen am Dienstag für eine solche Regelung demonstrieren. „Es ist eine schlimme Vorstellung, nach 12 Jahren ohne jeden Abschluss dazustehen“, sagte Claudia Döring. Die Elftklässlerin ist an der Vorbereitung der Demo beteiligt.
Unterdessen wurde bekannt, dass Steinhäuser am Ende der 10. Klasse versuchte, einen so genannten externen Realschulabschluss zu machen. Laut Thüringer Kultusministerium scheiterte er aber und kehrte ans Gutenberg-Gymnasium zurück. GEW-Chef Röhreich hält das nicht für ungewöhnlich. Gymnasiasten könnten sich zwar als Externe um die mittlere Reife bemühen. Sie gingen damit aber ein Risiko ein: Denn ihnen werde auch Prüfungswissen abverlangt, das sie nicht gelernt hätten, und sie träfen auf Lehrer, „die ihnen vollkommen fremd sind“.
Die Waffenbestimmungen werden ebenfalls diskutiert. Das Ordnungsamt Erfurt hat auf unbestimmte Zeit die Vergabe von Waffenberechtigungskarten (WBK) ausgesetzt – als Folge der Tat, bei der Robert Steinhäuser 15 Menschen und sich selbst mit einer Pistole „Glock 17L“ erschossen hatte. Die Waffe hatte er nicht, wie vorgeschrieben, dem Ordnungsamt gemeldet. Nur die Pumpgun, die er nicht verwendete, hatte er der Behörde angezeigt.
Das Ordnungsamt prüft einmal im Jahr, ob WBK-Inhaber ihre Waffen innerhalb von zwei Wochen gemeldet haben. Steinhäuser kaufte die Tatpistole im Oktober vergangenen Jahres legal. Doch bei der Prüfung der Waffenhandelsbücher im Dezember vergangenen Jahres fiel dem Ordnungsamt nicht auf, dass er diese Waffe nicht gemeldet hatte. Stadtverwaltungssprecher Torsten Jäger sagte gestern: „Die Waffenhandelsbücher werden nur stichprobenartig durchgesehen. Die Wahrscheinlichkeit, dabei einen Robert Steinhäuser rauszupicken, ist sehr gering.“ Der Chef der Thüringer Polizeigewerkschaft, Jürgen Schlutter, forderte eine Veränderung der bisherigen Regelung. „Die Verkäufer sollten verpflichtet werden, dem Ordnungsamt den Verkauf von Waffen zu melden. Wenn ich mir ein Auto kaufe, weiß das Finanzamt auch davon.“
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