„Urbane Living“

Jean-Marc Abcarius und Christopher Burns entwickelten das Haus Joachimstraße 5 in Berlin-Mitte zweifach in eigener Sache, nämlich als Entwerfer und als zukünftige Bewohner einer Etage

Dank engem Kontakt zwischen Entwerfern und Bewohnern: Jede Etage ein Prototyp

von MICHAEL KASISKE

„Die Architekten müssen es lieben, unter strömenden Wasser zu stehen“, lautete die erste Information über das Haus Joachimstraße 5, „sonst hätten sie die Duschen nicht so aufwendig gestaltet ins Zentrum der Wohnungen gestellt.“ Damit stand der Einstieg in das Gespräch fest, denn Jean-Marc Abcarius und Christopher Burns entwickelten dieses Projekt zweifach in eigener Sache, nämlich als Entwerfer und als zukünftige Bewohner einer Etage.

Doch das Treffen vor dem Wohn- und Geschäftsbau ließ Fragen nach Badegewohnheiten schnell in den Hintergrund rücken. Eine solche straßenseitig vollständige Verglasung aller Wohnetagen, über die gesamte Hausbreite vom Fußboden bis zur Decke, ist im gern apostrophierten „steinernen Berlin“ äußerst rar. Die lamellierten Schiebeelemente und Vorhänge vermeiden allerdings den Eindruck eines Puppenhauses.

Das offene Konzept hat einen Namen: „Urbane Living“ nennen Abcarius und Burns diese Wohnform, für die sie – in der Architektur hierzulande eine Ausnahme – die Rolle des Projektentwicklers übernahmen. Anlass war der Wunsch gewesen, ihre zahlreichen Wettbewerbsgewinne in eine eigene Wohnung zu investieren.

Der Ausbau eines Dachgeschosses lag nahe. Doch die beiden einnehmend unprätentiösen Gestalter entschieden sich, ihre Vorstellungen vom Wohnen kompromissloser zu realisieren, als es unter einem bestehenden Dach möglich gewesen wäre. Ein ganzes Haus sollte es sein, an dem mehrere ebenfalls investitionsbereite Partner jeweils einen Wohn- oder Gewerbeanteil halten.

Es galt, ein geeignetes Grundstück und engagierte Klienten zu finden. Das Erste erwies sich als mühsam. Da die Wahl auf den Bezirk Mitte gefallen war, wo noch kleine unbebaute Parzellen im städtischen Umfeld zu finden sind, musste das Bezirksamt von dem Konzept überzeugt werden. Siebenmal ließ man sich dort Bewerbungen mit eigens auf die Situation zugeschnittenen Entwürfen vorlegen, bevor 1998 der Zuschlag für das jetzige Grundstück erteilt wurde.

Das Zweite, die Suche nach der Klientel, kann sich jeder ausmalen, der mal ein Projekt organisiert hat. Solange das Konzept auf dem Papier bleibt, ist Zustimmung leicht zu gewinnen. Wenn es freilich konkret wird und den Einsatz von Geld erfordert, wird es heikel. Enttäuschenden Erfahrungen blieben auch Abcarius und Burns nicht erspart.

Schließlich gewannen sie in einer Interessentin, die eher zufällig vermittelt worden war, eine vertrauensvolle und motivierte Partnerin. Die Banken zogen mit und so konnte der Bau im Dezember 1999 begonnen werden.

Mit der Realisierung wurden bereits im unausgebauten Zustand die Qualitäten der Wohnungen sichtbar. Bei Etagenhöhen von drei Metern organisierten die Architekten die Grundrisse dergestalt, dass von keinem Standpunkt aus der gesamte Raum erfasst werden kann. Geschickt setzten sie Durch- und Ausblicke ein in dem Wissen, dass Großzügigkeit nicht allein eine Frage der faktischen Fläche ist, sondern des subjektiven Eindrucks, ein Raum gehe da und dort hinter einer Wand noch weiter.

Bis zur Fertigstellung im August 2001 waren denn auch alle Wohnungen verkauft, wobei die Quadratmeterpreise den üblichen Rahmen für Neubauwohnungen nicht überschritten: rund 2.800 bis 4.800 Euro, je nach Lage im Haus. In die Gewerbeeinheit ist ein Geschäft mit ausgesuchten Möbel- und Wohnartikeln eingezogen, das den großen, zum Garten offenen Raum kongenial bespielt.

Der enge Kontakt zwischen den Entwerfern und den Bewohnern trug Früchte: Jede Etage ist ein Prototyp, der für die Ansprüche der jeweiligen Bewohner entwickelt wurde. A priori haben diese Wohnungen durch die intensive Kommunikation etwas, das normalerweise nur Altbauten zugebilligt wird, nämlich eine eigene und unverwechselbare Geschichte. Die sichtbar hohe Detailqualität und die ausgesuchten Materialien unterstreichen den Vorteil der in einer Rolle verschmolzenen Funktionen Architekten und Projektentwickler. Dass dabei auf eine konsistente Gestaltung nicht verzichtet werden musste, ist offensichtlich.

Der durch die Glasfenster gegebene, unmittelbare Bezug nach außen wird übrigens erst vor dem biografischen Hintergrund der Architekten deutlich. Abcarius wuchs in Beirut auf, wo die Terrassen so groß wie die umschlossenen Wohnflächen waren, Burns stammt aus Los Angeles. Das geliebte Leben an der Luft haben sie in ein städtisch verdichtetes Umfeld übertragen können, da sich die Straßenfronten der Wohnungen fast vollständig öffnen lassen. Die gesamte Etage verwandelt sich damit in eine Loggia.

Der Planungs- und Bauablauf über vier Jahre war anstrengend. „Wenn wir vorher gewusst hätten, was auf uns zukommt, hätten wir das Projekt nicht in Angriff genommen“, meinen Abcarius und Burns im Rückblick, „Doch jetzt nutzen wir die Erfahrung aus der Projektentwicklung und der Realisierung. Mit dem Projekt Mulackstraße 12 versuchen wir, unsere Idee als ‚ Pret-à-porter‘-Konzeption zu etablieren.“ Der realisierte Bau wird dabei als „Visitenkarte“ dienen, die potenziellen Käufern das zukünftige Raumerlebnis bereits jetzt im Maßstab 1 : 1 ermöglicht.

Die konventionellen Bauten der 1990er-Jahre mit ihren applizierten Fassaden und dem Quadratmeter schinden dahinter, von anonymen Entwicklern und Planern am prosperierenden Markt der Hauptstadt plaziert, wiesen weder ästhetisch noch qualitativ einen Weg in die Zukunft des Wohnens. Das Haus Joachimstraße 5 gibt dagegen Anlass zum Vertrauen in die Architektur der Gegenwart: höchst individuelles Wohnen und gleichzeitig eine unaufgeregt besondere Gesamterscheinung im Stadtbild. Das ist so selten und so prickelnd wie Duschen im Wind.