Ohne Fisch kein Leben

Der Westen Siziliens pflegt eine tiefe und innige Beziehung zum Thunfisch: Ohne ihn, so die Fischer, sei die Insel „ein Schmetterling ohne Flügel“

In ihrem Schoß hält die Madonna einen Thunfisch statt des Jesuskindes

von CRISTINA NORD

Ein schwarzer, verschrumpelter Klumpen von der Größe einer Blutorange: Das ist das Herz des Thunfischs. Damit es in der Wärme des Lagerraums nicht verdirbt, liegt es in einem Salzhaufen vergraben, im groben Meersalz, das von den Salinen vor der Küste stammt. Im Salz lagern außerdem Beutel voller Thunfischsperma, Lattume genannt. An der Decke hängen Würste und Schinken zum Trocknen, auch sie hergestellt aus Thunfisch. „Vom Thunfisch kann man alles benutzen“, sagt der Angestellte, der über das Gelände von Eurofish s.r.l. führt, einem Fischverarbeitungsbetrieb in Marsala an der sizilianischen Westküste.

Im Nebenraum beugt sich ein dicker Mann über einen Tisch. Er trägt ein Hemd, das seine Brust und seine Schultern freigibt, ein feiner Schweißfilm liegt auf seiner Haut. Er knetet einen Beutel von 50 Zentimeter Länge, gemasert wie ein Tigerfell, rot, schwarz, rosa. Drin ist Thunfischrogen, die Eier des Weibchens. Nachdem der Fisch zerlegt und ausgenommen worden ist, liegen die Beutel ein paar Tage in einem Salzwasserbottich, später im Salzhaufen. Alle drei Tage werden sie herausgenommen, gesäubert und massiert, damit alles verbleibende Blut austritt. 40 Tage dauert das, eine langwierige Prozedur, in deren Verlauf die Rottöne ausbleichen. Geduld ist nötig und eine Nase, die sich an Fischgeruch gewöhnt hat. Das macht sich bezahlt: 130 Euro kostet ein Kilo Rogen erster Güte im Laden.

Seit alters her pflegt der Westen Siziliens, die heutige Provinz Trapani, eine innige Beziehung zum Thunfisch. Ältestes Zeugnis hiervon sind Höhlenmalereien auf Levanzo, einer der Ägadischen Inseln wenige Seemeilen vor der Küste.

Neben anderen Tier- und Menschenfiguren sind einige Rauten auf die Wand der Grotta del Genovese gezeichnet: Thunfisch-Symbole, die vermutlich aus der Bronzezeit stammen. Die Phönizier, die im 8. Jahrhundert v. Chr. Handelsniederlassungen auf Sizilien gründeten, prägten Thunfische auf ihre Münzen. In griechischen und römischen Quellen taucht das Tier immer wieder auf, unter anderem bei Aristoteles und Plutarch.

Im zweiten Jahrhundert n. Chr. schreibt der griechische Dichter Oppian von Kilikien über die Schwärme von Sardinen, denen die hungrigen Thunfische folgten: „Der Zusammenstoß mit solchen riesigen Fischschwärmen brachte Schiffe zum Stehen, als wären sie auf einen Felsen aufgelaufen; manchmal blieben die Ruder trotz aller Anstrengungen in dieser Masse einfach stecken.“

Bei Eurofish sind an diesem Junimorgen 30 Thunfische eingetroffen. Per Angel wurden sie vor der Nordküste Siziliens gefangen. Sie liegen aufgereiht auf Tischen in der großen Verarbeitungshalle. Draußen im Hof sticht die Sonne schon um neun Uhr in der Früh, drinnen in der hohen, weiß gekachelten Halle ist es kühl. Japanische Arbeiter inspizieren die Tiere. Die größeren sind bis zu zwei Meter lang und bringen 150 Kilo auf die Waage, die kleineren messen einen Meter, sind etwa 60 Kilo schwer.

Manche Tiere glänzen dunkel, andere silbern, ihre Augen haben jeden Ausdruck verloren. Die Mäuler stehen offen, wenn man sich hinhockt, kann man tief in ihre Leiber blicken, auf das zerstoßene Eis, das die toten Körper von innen kühlt.

Die Japaner arbeiten für die Thunfischimportfirma Mitsui. Sie entnehmen den Tieren Proben: Eine Scheibe Fleisch trennen sie aus der Seite des Fischs, dort, wo der Rumpf aufhört und die Schwanzflosse anfängt, punktieren mit einer langen Nadel den Bauch und entnehmen eine wurmförmige Probe, die sie auf eine Serviette legen. Anhand dieser Proben bestimmen sie, wie gut das Fleisch ist und welche Tiere nach Japan exportiert werden sollen. Bis zu 90 Prozent des Thunfischs, der vor der sizilianischen Küste gefangen wird, geht nach Japan, in der Regel tiefgekühlt. Manchmal, wenn ein Exemplar besonders prächtig ist und sein Fleisch besonders viel Fett enthält, wird es auf Eis gelegt, von Palermo nach Tokio geflogen und anderntags als Sushi in einem Restaurant feilgeboten.

Sind die Proben einmal entnommen, beginnt die Verarbeitung. Eine Motorsäge trennt den Kopf und den Schwanz vom Rumpf, im Nachbarraum werden die Tiere mit scharfen Messern zerlegt. Zwei Schnitte entlang des Rückgrats, zwei entlang des Bauchs und je zwei an den Seiten. Ein Arbeiter bringt den Rumpf des Fisches mit Stöcken in die richtige Position, der andere setzt das Messer an. Die länglichen Stücke werden weitergereicht, auf einem Holztisch mit dem Beil bearbeitet und mit einem Schwamm gesäubert. Japanische und sizilianische Arbeiter kommen miteinander aus, ohne Worte zu wechseln, routiniert, schnell, die Bewegungen sitzen.

Die Viertel werden mit einem weißen und einem farbigen Bändchen versehen. Das eine ist zum Aufhängen, das andere gibt die Qualität an: Rot bezeichnet das fettigste Fleisch und damit die höchste Qualität. Um sie zu erreichen, muss der Fisch gefangen werden, bevor er laicht. Denn dabei verausgabt er sich so, dass es dem Fleisch anzumerken ist. Feinschmecker können angeblich am Geschmack des rohen Fleischs erkennen, wie viel Angst der Fisch im Augenblick des Todes verspürt hat – ein Gerücht möglicherweise, und doch zeigt es, dass der Thunfisch, zumal in Japan, so viel Kennerschaft heraufbeschwört wie andernorts der Wein.

Die besten Exemplare werden im Mai gefangen, bis Ende Juni reicht die Saison. In dieser Zeit beschäftigt Eurofish 42 Mitarbeiter. In der übrigen Zeit sind es 20, die sich vornehmlich dem Schwertfischfang widmen. Wie viel Tiere sie fangen, schwankt: Mal vergeht ein Tag ohne Fang, mal sind es zwei, drei Tiere, die ein Fischkutter aus dem Meer holt. Vor hundert Jahren, als die Thunfischindustrie Westsiziliens prosperierte, waren es schon mal 10.000 im Monat.

Knapp 20 Kilometer nordwestlich von Marsala liegt die Insel Favignana, die wie Levanzo zum Archipel der Ägadischen Inseln gehört. Auf Favignana wurde der Thunfisch Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals mit Hilfe von Olivenöl konserviert. Der Dosenthunfisch war erfunden, die Grundlage einer florierenden Industrie geschaffen. Sie wurzelte in einer jahrhundertealten Fangtechnik: Als die Araber den Westen Siziliens besiedelten, im 9. Jahrhundert n. Chr., gründeten sie die Tonnara von Favignana. Tonnara ist der Name für ein komplexes System von Reusen und Netzen, eine groß angelegte Unterwasserfalle, die noch heute vor der Insel errichtet wird, jedes Jahr im April, bevor die Thunfischschwärme auf der Wanderung zu ihren Laichplätzen an den Ägadischen Inseln vorbeikommen.

Im Mai, wenn erstmals genügend Tiere in die letzte Kammer des Netzes, die camera della morte, hineingeschwommen sind, findet die erste mattanza der Saison statt: das Töten der Thunfische auf See. Um die Todeskammer herum bilden die Boote der Tonnarotti, der Fischer, ein Viereck. Mit Hilfe eines dicht geflochtenen Netzes, il coppo, ziehen sie die Tiere aus der Tiefe hinauf an die Meeresoberfläche. Im Geviert zwischen Netz und Booten schießen die Fische hin und her. Den Haken der Tonnarotti entgehen sie dennoch nicht. Die Männer holen die zentnerschweren Fische aus dem Wasser, das umso röter wird, je länger die mattanza dauert.

Der Zusammenstoß mit solchen Fisch- schwärmen brachte Schiffe zum Stehen

Ein „Auslaufmodell“ nennen die Männer von Eurofish die mattanza. Quälerei, sagen Tierschützer. Der Raìs, der Chef der Tonnarotti von Favignana, sieht das anders. „Thunfische sind mein Leben“, sagt er. Und die Insel wäre ohne den Thunfisch „ein Schmetterling ohne Flügel“. Damit hat er nicht Unrecht. Auf der kleinen Insel mit ihren dreieinhalbtausend Bewohnern zeugt vieles von der Bedeutung des Fischs. Eine namenlose Madonna zum Beispiel, die im Hauptort, von der Piazza Tre Croci aus Richtung Meer blickt. In ihrem Schoß hält sie einen Thunfisch statt des Jesuskindes; wer zu ihr betet, verspricht sich davon volle Netze. Nicht weit von ihr, an der linken Flanke der Bucht, erstrecken sich die Hallen der Tonnara, der Fischverarbeitungsanlage (Tonnara bezeichnet sowohl die Netze im Meer als auch den Verarbeitungsbetrieb an Land). Errichtet wurden sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts, nachdem die Ägadischen Inseln in den Besitz der Unternehmerfamilie Florio übergegangen waren.

Die Florios brachten die Likörindustrie in Marsala in Gang und die Thunfischindustrie auf Favignana. Sie waren es, die die Konservierung per Olivenöl entdeckten, sie waren es, die die Arbeitsabläufe rationalisierten, die Festungshäftlinge und – was unüblich war für sizilianische Verhältnisse – Frauen beschäftigten, damit die Arbeit bewältigt werden konnte. Für die jungen Mütter gab es sogar eine Kinderkrippe auf dem Gelände der Tonnara. Gegenüber den Hallen, am anderen Ende der Bucht, ließen die Florios ihren Herrschaftssitz errichten, einen dreistöckigen Palazzo, dessen Flachdach Zinnen säumen. Heute ist er verwaist, ein Stück Grandezza aus vergangener Zeit, ganz wie die Tonnara, deren Betrieb vor 20 Jahren eingestellt wurde.

Der Raìs, mit bürgerlichem Namen Giocchino Cataldo, versteht sich darauf, die Zeichen des Niedergangs vergessen zu machen. Er kennt sich aus mit Reportern und weiß, wie man sie beeindruckt: mit Anekdoten, mit überraschender Offenheit, mit ein paar Ticks und Spleens. Keinen seiner Sätze sagt er zum ersten Mal. Oft betont er, dass seine Augen etwas ganz Besonderes seien. Dann lässt er sie blitzen, die Augen, und freut sich, wenn die Fotografen auf den Auslöser drücken.

Zum Raìs wurde er vor fünf Jahren ernannt, nachdem er schon mehr als zwei Jahrzehnte als Tonnarotti gearbeitet hatte. Es gab damals Streit zwischen dem Besitzer der Anlage und dem Pächter. Cataldos Vorgänger, der Raìs Salvatore Spataro, dankte gemeinsam mit dem Pächter ab, Cataldo rief eine Genossenschaft ins Leben. In dieser Saison kam es zu neuen Verstimmungen: Der Besitzer, Luigi Parodi, untersagte, dass Touristen der Mattanza beiwohnten. Vor allem störte er sich an der Mietgebühr von 40.000 Lire, die die Tonnarotti den Neugierigen für die Schwimmwesten abverlangten. Dass sie zum Touristenspektakel verkommen sei, ist denn auch einer der Vorwürfe, die gegen die Mattanza erhoben werden. Was er dazu sagt? Gioacchino Cataldo will die Frage nicht verstehen, man muss sie zweimal stellen, mindestens. Dann lässt er seine Augen blitzen, wie um zu zeigen, dass er sie für überflüssig hält. Kein Sakrileg, aber unnötig wie eine Fliege, die ihm vor dem Gesicht herumschwirrt.

„Es ist kein Blutspektakel“, sagt er. Wer Lederschuhe trage und Lammfleisch esse, stehe schließlich vor demselben Problem. Seine ganze Existenz verdanke er dem Thunfisch, warum also solle er dem Tier Böses wollen? „Ich liebe den Thunfisch“, sagt er, der Entrüstung nahe, und fügt hinzu: im Wasser wie auf dem Teller.

Zum Weiterlesen: Theresa Maggio: „Mattanza. Liebe, Tod und das Meer – ein sizilianisches Ritual“. Diana Verlag, München, Zürich 2001, 304 Seiten, 19,95 EuroDer Fischverarbeitungsbetrieb Eurofish s.r.l. kann nach vorheriger Absprache besichtigt werden. Kontakt über das Acos Hotel in Marsala, Ansprechpartnerin ist Barbara Gandolfo (ital. u. engl.), Tel. 0039/ 09 23 - 99 91 66 oder 09 23 - 99 90 15