Pellkartoffeln schälen mit 7

■ Gesamtschule im Land der Handys, Elche und Pisa-Cracks: Die Finnen zeigen den Deutschen, wie es geht. Eine lehrreiche Veranstaltung in der Arbeitnehmerkammer

Was hatte die DDR, was hat Finnland, was wir nicht haben? Richtig: Ganztagsschulen – oder jedenfalls ein vergleichbares Angebot.

Die Stimmen, die auch in der alten BRD nach Betreuung, Ausbildung und Erziehung über die paar Stunden am Vormittag hinausriefen, gingen lange unter. Sie wurden überhört im mächtigen Konzert der Bewahrer einer absolut familienorientierten Erziehungspolitik und einer ausschließlich leistungsorientierten Schulpolitik. Am Anfang der 2000er Jahre steht der Westen Deutschlands mit dem Modell der Halbtagsschule in Europa völlig alleine da.

Unter dem Titel „Von den NachbarInnen lernen“ hat daher die Arbeitnehmerkammer zur Diskussion um die Ganztagsschule und ihre Einführung auch in Deutschland geladen. Aus Frankreich, aus Tschechien und auch aus Finnland berichteten Fachfrauen von den dortigen Modellen. Rheinland-Pfalz als bundesdeutscher Vorreiter schickte ebenfalls einen Referenten. Und dank einer fundierten Einführung von Karin Gottschall (Uni Bremen) gingen die TeilnehmerInnen der Tagung gut gebrieft in die Debatte.

Den Pisa-Schock gab es auch bei den Siegern in Finnland

Dabei hatte das Publikum ganz besonderes Glück mit der Finnin Aila-Leena Matthies von der Fachhochschule Magdeburg. Sie hat als Wissenschaftlerin und Mutter zweier Kinder sowohl die deutsche als auch die finnische Situation am eigenen Leib erfahren – und konnte das mit Humor vermitteln.

„Pisa war für uns ein Schock“, beschreibt sie schmunzelnd die Reaktionen vor allem der Lehrkräfte auf die hervorragenden Ergebnisse der finnischen SchülerInnen. Seit Anfang der 90er steht nämlich auch dort das Sparen ganz oben auf dem Zettel von Politikern, die Schulen sind davon natürlich betroffen. „Und dann diese guten Ergebnisse“. Aber, Spaß beiseite: Pisa gebe gute Argumente an die Hand, um das relativ aufwändige Schulsystem Finnlands politisch und gesellschaftlich zu rechtfertigen – obwohl die Wirtschaft murrt, es sei zu teuer. Alle Schüler gehen, bis sie siebzehn Jahre alt sind, gemeinsam zu Gesamtschulen – Chancengleichheit ist also im System angelegt. Erst dann erfolgt eine Differenzierung in Gymnasien und Berufsschulen. Bis zur relativ späten Einschulung mit sieben werden Kinder – auch vor drei Jahren schon – betreut. „Sie werden so zur Selbstständigkeit erzogen“, sagte Matthies. „Am Ende der Vorschule können sie sich nicht nur die Schnürsenkel selber binden, sondern auch Pellkartoffeln schälen“, erzählt sie.

Die Kids im Norden können mehr als Schnürsenkel zubinden

Die Frage Kinder oder Berufstätigkeit? hätte sie, bis sie nach Deutschland kam, noch nie gehört. Aber es hängt im Norden auch am Bildungssystem, nicht nur die Frauenfrage: Auch beim Thema Arbeitsslosigkeit sei der Bildungsstand entscheidend. „Die Linie verläuft nicht zwischen Menschen, die arbeiten und solchen, die nicht arbeiten, sondern zwischen denen, die mit ihrer Zeit im Sinne der Bürgergesellschaft etwas anfangen können oder nicht.“ Dem deutschen Schulsystem macht sie schwere Vorwürfe: „Es überlässt die Leute mit niedrigem oder gar keinem Abschluss einer Abwärtsspirale.“

Und das, so betonte auch die Sozialwissenschaftlerin Karin Gottschall, sei eben das verheerendste Ergebnis der Pisa-Studie: dass nirgendwo die Bildungsergebnisse so stark mit der sozialen Herkunft zusammenhängen würden wie in Deutschland. Die Tradition des dreigliedrigen Schulsystems sei dafür verantwortlich, aber eben auch die Halbtagsschule, die nur dem Bildungsauftrag, nicht aber einem Erziehungsauftrag nachkomme.

Lehrer an die Uni, Erzieher nur in die Ausbildung

Noch sei die Halbtagsschule im deutschen Sozialsystem „sehr gut vertäut“, erklärte Gottschall die Beharrlichkeit des offensichtlichen Auslaufmodells. Kinderbetreuung und Bildung sind politisch getrennt und unterschiedlich professionalisiert: LehrerInnen werden universitär ausgebildet, ErzieherInnen nur „semi-professionell“ – die Zeit im Kindergarten bleibe so ohne Qualitätskontrolle. Was für Gottschall wiederum daran liegt, dass den Familien (also eigentlich den Frauen) verfassungsmäßig Vorrang eingeräumt würde: Mutti ist die allerbeste Erzieherin. „Das hat in Deutschland selbst die bürgerliche Frauenbewegung geschluckt.“ Elke Heyduck