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Gelassen verzweifelt

Realitätsverlust und Austauschbarkeit, nur Erwartung, nie Erfüllung: Stefan Puchers „Drei Schwestern“ aus dem Schauspielhaus Zürich eröffnete mit minimalistischem Spiel und glasklarem Text das 39. Berliner Theatertreffen

Biegsam sind sie nicht, diese zwanzig Figuren, die Stefan Pucher für den ersten Akt von Tschechows „Drei Schwestern“ auf die Bühne gestellt hat. Wie eingetopft stehen sie da, wie ein Strichcode aus dicken und dünnen Linien. Von unten steigen Klaviertöne auf, einzeln abzählbar, und an das Nebeneinander der Tasten erinnern auch die schmalen Falttüren im Hintergrund. Hier ist alles überschaubar, hier gibt es keine verschachtelten Seelenlagen. Klar wie Rechenaufgaben sind die Aussagen der Sätze. Dass sie sich ähneln und zu wiederholen beginnen, wen wundert das noch.

Am Anfang stehen kleine Mädchen und alte Frauen zwischen den Schwestern Olga, Irina und Mascha, Projektionen ihrer selbst in Vergangenheit und Zukunft. Geschichte, das zeigt diese Installation schon, wird erlebt als Karussell. Wie die Holzpüppchen drehen sich die Mädchen und alten Frauen und schütteln ihren Vertreterinnen in der Gegenwart die Hände. Dort anzukommen ist aber das, worum die drei Schwestern und Verehrer und Kollegen nicht minder die ganze Aufführung lang vergeblich kämpfen. „Die Zeit entflieht so rasch, und es ist mir, als ob ich mich von dem wahren, wirklichen schönen Leben immer mehr entferne.“ – „Man wird uns vergessen.“ – „Dass ich mich noch nicht umgebracht habe, begreife ich nicht.“ – „In Wirklichkeit gibt es uns vielleicht gar nicht, alles ist nur eine optische Täuschung.“ Spielt es da noch eine Rolle, wer welchen dieser Sätze aufsagt? Ob Irina, die mit 24 schon den Glauben an die tägliche Sinnstiftung im Telegrafenamt verloren hat und durch Arbeit ihr Leben zu retten hoffte? Oder der alte Arzt Tschebutykin, dem sein Wissen zerbröselt und den der Geruch der Sterbenden verfolgt?

Mit diesem Tableau vom Stillstand begann das 39. Berliner Theatertreffen. Stefan Pucher gehörte letztes Jahr zu den „jungen“ Regisseuren, die auf der alternativen „Experimenta“ in Frankfurt beweisen wollten, dass eine Einladung nach Berlin nicht immer das Größte ist. Seine Inszenierung verabschiedet alles Dramatische: die Individualität, die Handlung, die Seele, den Naturalismus sowieso. Alles andere hat schon dieser Text verabschiedet: den Dialog, die Liebe, das Vertrauen in die Selbstbestimmung des Subjektes durch Arbeit und vor allem die Rechtfertigung des Elends heute durch den Ausblick auf eine bessere Zukunft. Von wegen Telos! „In zwei-, dreihundert Jahren wird das Leben auf der Erde unvergleichlich schöner und herrlicher sein“, glaubt Werschinin; aber in der Gegenwart reicht es bei ihm, dem potenziellen Liebhaber, immer nur zur Erwartung, nie zur Erfüllung.

Tschechows Text ist 101 Jahre alt; dennoch lässt sich in ihm eine Zustandsbeschreibung von Realitätsverlust und Austauschbarkeit festmachen, für die sich ein Jahrhundert später mit dem virtuellen Raum und den genetischen Basteleien die Indizien verhärtet haben. Dies ist das schönste Paradox: Pucher gebraucht das Stück über die Unmöglichkeit, Gegenwart zu leben, um sie zu beschreiben.

Es ist nicht einfach, in dieser Partitur aus Monologen die Spannung aufrechtzuerhalten; den Schauspielern aus Zürich gelingt nicht nur das, sondern sogar noch aus dem Unterkühlten einen eigenen Witz herauszuholen. Sie sind so gelassen in der Beschreibung der Verzweiflung, so alltäglich in ihrem Verweilen vor den Abgründen, da liegt fast schon wieder etwas von Auftrieb drin. Das macht sicher das Training bei Marthaler. Nach der Pause kippt die Stimmung ins Katastrophische. Feuerbrünste sollen in der Nähe toben, die Schauspieler sitzen auf einer Bühne ohne Licht, die Stimmen sind weniger denn je den Körpern zuzuordnen. Alles, was sie sagen, wiederholt sich später noch einmal als Teil der Geschichte. Doch bevor man die kausalen Zusammenhänge begreift, liegt ein noch viel größeres Entsetzen in den Sätzen. Aus dem Gefühl der Unmöglichkeit, sich ins Leben einzuschalten, ist die Erfahrung geworden, verantwortungslos Dinge geschehen gelassen zu haben und so schuldig geworden zu sein.

In dieser Perspektive berührt sich Puchers „Schwestern“ mit dem Tanzstück „Alibi“ von Meg Stuart, seiner Lebensgefährtin, ebenfalls aus Zürich zum Theatertreffen eingeladen. In Zürich findet im Juni eine Volksabstimmung statt, ob sich die Stadt die Subventionen für ihr Theater noch leisten will. Das klingt fast so schrecklich wie die Pleite der Kulturförderung in Berlin. Da kann einem angst und bange werden vor der Dynamik der Demokratie. Noch eine Utopie, die über Bord zu gehen droht: dass Kunst gewollt wird.

KATRIN BETTINA MÜLLER

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