Feige Polizisten schweigen

Beamte warteten draußen vor einer Kneipe, während drinnen die Gastwirtin überfallen wurde. Nun sind vier der Polizisten wegen unterlassener Hilfe angeklagt

Eine Ungeheuerlichkeit ist geschehen. Und weil es bei der Polizei noch keine Richtlinien gibt, wie in solch kritischen Situationen zu verfahren ist, die sich ungewollt zu Ungeheuerlichkeiten auswachsen – keine Vermerke in den Akten, keine Regeln im kriminalistischen Lehrbuch –, wird der gestern am Amtsgericht Tiergarten begonnene Prozess gegen vier Berliner Polizeibeamte Geschichte machen. Er wird zum Präzedenzfall werden. Das wissen die vier Angeklagten. Und weil man als eine solchermaßen historisch wichtige Person, keine Fehler machen will, sagt im Gerichtssaal keiner der vier etwas zu dem Vorfall, dem Richter schlägt trotziges Schweigen entgegen.

Am Abend des 9. Juni konnte es passieren, dass 17 Polizisten um die Gaststätte „Droschkenkutscher“ in Prenzlauer Berg herumstanden, während drinnen zwei Männer die Wirtin des Lokals fast totschlugen. Als einer der Täter die Spielautomaten leer räumte, trat der andere brutal auf die 54-jährige Barbara F. ein. Die Frau wimmerte und schrie. Mehr als 20 Minuten dauerte der grausame Überfall. Trotzdem griff keiner der Polizisten von draußen ein. Erst als die beiden Männer die Gaststätte mit 2.200 Mark verließen, nahmen die Beamten sie fest.

Vier Polizeibeamte im Alter von 25 bis 40 Jahren müssen sich nun vor dem Richter wegen Körperverletzung im Amt durch unterlassene Hilfe verantworten. Es geht um brisante Fragen: Wie sehr muss sich ein Polizist im Dienst selbst gefährden? Wann gilt eine Situation als zu gefährlich für einen Einsatz? Die Medien hatten die Beamten bereits unmittelbar nach dem Vorfall als „feige Polizisten“ vorverurteilt.

Den Ermittlungen des Staatsanwalts zufolge glich der Einsatz in der Malmöer Straße damals indes tatsächlich einem hilflosen Fiasko: erwachsene Männer und Frauen in Uniform, die nervös vor einer Gaststätte auf und ab gehen, aus der Schreie und Verzweiflung dringen; immer wieder fordern die Beamten über Funk Verstärkung an, schützen sich lieber selber, als weiteres Unglück zu vermeiden.

Dabei hätte die Rettung für Barbara F. nicht zu spät kommen müssen. Wenige Minuten nach dem Überfall hatte eine Nachbarin die Polizei angerufen, sechs Beamte des Abschnitts 76 waren um 22.08 Uhr eingetroffen. Zwei Polizisten lugten durch ein Fenster in den Gastraum, hörten Geräusche, Klirren, Stöhnen. Sie bestellten ein Sondereinsatzkommando (SEK), sperrten die Straße – warteten ab.

Schon im Verfahren gegen die beiden Täter hatte die Polizei ihr Verhalten verteidigt. Ein Beamter hatte ausgesagt: „Wir wussten ja nicht, wie die Täter bewaffnet sind“, ein Kollege sprach von einer befürchteten Geiselnahme, die Einsatzleiterin hatte erklärt: „Jeder hat das gemacht, was er für richtig hielt.“ Die Funkprotokolle, die gestern vom Richter verlesen wurden, ergeben, dass die Beamten nicht wussten, wie viele Täter sich in der Gaststätte befanden.

Ein Urteil im Prozess wird Mitte Mai erwartet. „Dann werden wir wissen, wie weit die Pflichten eines Polizisten gehen“, hofft der Staatsanwalt. Barbara F. ist seit dem 9. Juni 1998 ein Pflegefall. Es fällt ihr schwer, zeitliche Zusammenhänge zu begreifen, bestimmte Gegenstände erkennt sie nicht mehr. Es ist unklar, ob sie jemals wieder außerhalb einer betreuten Einrichtung leben kann. KIRSTEN KÜPPERS