Steh auf, wenn du Schalker bist

Mit dem Titel hatte Schalke 04 diesmal nichts zu tun, dafür kann der Exmeister der Herzen am Samstag gegen Leverkusen den Pokal verteidigen. Mitfiebern wird Rolf Rojek, glühender Schalke-Anhänger, Fanclub-Vorsitzender und Aufsichtsrat

von ASMUS HESS

Sommer 1997. Eine knappe Woche vor dem entscheidenden Spiel gegen Inter Mailand trifft es den Schalke-04-Fan Rolf Rojek schwer unter der Gürtellinie. Verschleppte Entzündung, sagt sein Urologe, ein Hoden muss weg, Sie gehen sofort ins Krankenhaus. Geht nicht, jammert Rojek, ich muss in ein paar Tagen nach Mailand, Mensch, Europacup-Endspiel. Machen Sie’s doch ambulant, fleht er. Ist nicht zu empfehlen, sagte der Arzt. Egal, meint Rojek.

Einen Tag später nimmt der Urologe den Schalker unters Messer. Rojek wacht um elf Uhr vormittags aus der Narkose auf. Fünf Stunden später sitzt er bereits wieder im Auto, mit zugenähtem Hodensack. Rolf Rojek, Vorsitzender des Dachverbands aller Schalke-04-Fanclubs, holt an diesem Nachmittag S04-Fahnen im 90 Kilometer entfernten Gronau ab. Natürlich fliegt er auch nach Italien. Klar hat das verdammt weh getan, sagt Rojek, aber dass ich nicht zu so einem Spiel geh, da muss schon Schlimmeres passieren. Schlimmeres? Na, mit einem Ei kannste ja noch poppen, grinst Rojek.

Man mag den Mann für wahnsinnig halten, doch wenn Rolf Rojek über Schalke null vier redet, dann geht es nicht um Fußball. Schalke ist mein Leben, sagt Rojek, ganz nüchtern und sachlich. So war es schon immer: während der Schlosserlehre in der Zeche Hugo und hinterher in den acht Jahren bei der Bundeswehr. Schalke über alles. Nichts geht über null vier. Danach zog Rojek als Versicherungsvertreter durch die Gegend, mit prächtigem Auskommen – bis sein Schalke-04-Fanclub-Engagement überhand nahm. Eines Tages musste er sich auf der Autobahn entscheiden: Fahr ich zum Kunden, der ne Versicherung will und mir 12.000 Mark Provision bringt? Oder in die Geschäftsstelle, wo mich der Schalke-Präsident sprechen will? Er fuhr in die Geschäftsstelle. Ein paar Tage später fragte er seine Frau Gudrun und die beiden Töchter: Sagt mal, wollen wir nur noch Schalke machen? Ja. Klar. Blöde Frage. Es folgten klamme Jahre ohne viel Geld. Wir wären fast verhungert, sagt Rojek. Inzwischen läuft’s wieder ganz gut, die Familie lebt vom Kartenvorverkauf und einer Kneipe. Die heißt natürlich „Auf Schalke“.

In der Moderne gelandet

Rojek wirkt wie einer, der seinen Platz auf dieser Erde gefunden hat: im Reinen mit sich und der Welt. Die Haare nach hinten gekämmt, mit Bierbauch, Zahnlücke und hintergründigem Grinsen steht er im neuen Stadion, das 358 Millionen Mark gekostet hat und für den Verein den Anbruch einer neuen Zeit symbolisiert: Schalke ist wieder oben und in der Fußball-Moderne gelandet, mit allem, was dazugehört: Diskussionen über den Club als AG, viel, viel Geld, teuren Spielern und Erfolgsdruck, im letzten Jahr Champions-League, nächste Saison Uefa-Cup, am Samstag Pokalfinale gegen Leverkusen in Berlin. Rojek rückt seinen S04-Schlips zurecht. Er trägt ja normalerweise keinen, doch nachher muss er in den Aufsichtsrat des Vereins. Seit sieben Jahren sitzt Rojek da drin. Unter anderem mit FDP-Fallschirmspringer Jürgen Möllemann. Ich versteh was von den Fans, der versteht was vom Geld, sagt Rojek: Der ist schon o.k.

Die schicke Schüssel ist ein Fußballtempel, in dem nicht mehr nur Bier, sondern auch reichlich Champagner fließen wird. Darf man das, hier auf Schalke, wo Expräsident Eichberg Anno dazumal die traditionsbewussten, Bier süffelnden Anhänger des Vereins mit Schampuskonsum irritierte? Solange wir, die Fans, nicht in den Logen hocken müssen, geht das klar, sagt Rojek.

Schließlich hat der Verein ja auch die Nordkurve nicht bestuhlt, er hat die Fans mitreden lassen, und die wollten stehen. Stehen für Schalke! Aufm Sitzplatz kann man nicht zu Topform auflaufen, nicht der zwölfte Mann auf dem Rasen sein, meinen die Fans. Rojek blickt ins Rund, wirkt plötzlich hilflos, bekommt feuchte Augen. Nicht wegen der Erinnerung an die alten, bodenständigeren Zeiten, sondern wegen der verrückten, verdammten viereinhalb Minuten. So lange war Schalke am letzten Spieltag der vergangenen Saison Meister. Zum Schluss nur Meister der Herzen. „Wenn ich daran denk, krieg ich ne Gänsehaut“, sagt Rojek, „wir haben unsere eigene Hinrichtung gesehen.“

Er war vier Jahre alt, da nahm ihn sein Vater das erste Mal mit ins Stadion. Vater und Sohn verloren sich im Gedränge vor der Glückauf-Kampfbahn, legendärste Spielstätte der deutschen Fußballgeschichte. Der kleine Rolf machte sich in die Hose und landete auf dem Arm eines Polizisten, bis Papa plötzlich wieder da war. Kein optimaler Einstieg in den Mythos S04. Trotzdem ist Rojek, inzwischen 48, am Ball geblieben. Hat den Dachverband der Fanclubs aufgebaut, der inzwischen mit 16 Mitarbeitern Eintrittskarten und Devotionalien verkauft, die Interessen von rund tausend Fanclubs mit 30.000 Mitgliedern gegenüber dem Verein vertritt, einen Info-Bus zu Trainingslagern und Spielen schickt, Fanturniere und Stadtrundfahrten organisiert, Hotels bucht, Sonderzüge und Busse zu Auswärtsspielen anmietet. Rojek ist seit 17 Jahren im Vorstand. War immer und überall dabei. Inzwischen ist er weit über die Gelsenkirchener Stadtgrenzen hinaus bekannt. Letztes Jahr hat ihm der Bund Deutscher Kriminalbeamter den Bullenorden verliehen – für Verdienste um die innere Sicherheit. Den Bullenorden kriegt nicht jeder. Rojeks Vorgänger sind Otto Schily, Horst Tappert, Hans-Dietrich Genscher, Edmund Stoiber, Eduard Zimmermann.

Hamster im Laufrad

Rojek arbeitet von morgens halb sechs bis zwölf Uhr nachts, hetzt von Termin zu Termin, wie ein Hamster im Laufrad, hat so viel zu tun, dass es Samstage gibt, an denen er das größte aller Opfer bringt: Er geht ins Büro statt zum Spiel. Internet-Auftritt, Sponsorensuche, Dauerkarten, alles an einem Vormittag. Rein in die Geschäftsstelle von S04, kurzer Plausch mit Manager Assauer, raus aus der Geschäftsstelle, rein ins Auto. Ey, ne Zecke, ruft Rojek, das seh ich auf hundert Meter Entfernung, und heizt dann an einem schwarzen Dreier-BMW mit Borussia-Dortmund-Wimpel im Fenster vorbei. Ein schlapper Wimpel – das ist nichts. Rojeks königsblauer Ford Mondeo ist so mit Schalke-Zeug zugehängt, dass sich der Blick nach hinten durch die Heckscheibe in blau-weißen Farben verliert. Da kommt noch was dazu, kündigt Rojek an. Wenn er mal fertig ist, wird er wahrscheinlich auch durch die Frontscheibe nicht mehr gucken können. Ein blau-weißer Stoffbär hängt schon am Rückspiegel.

Rojek sagt immer gerade heraus, was Sache ist – es sei denn, es geht um die Tradition. Dann wird er zum Diplomaten. Schwierige Geschichte. Er weiß, wie wichtig Image heutzutage ist. Image bedeutet Macht und Geld, Bindung der Fans an den Verein. Schalke, das stand früher für Kuzorra, Kohlemaloche und Kumpeltreue, heute top, morgen flop, erst deutscher Dauermeister, dann zweite Liga, fast dritte. Der Gelsenkirchener Stadtteil und sein Fußballclub waren ehemals eins, Schalke ohne null vier? Undenkbar. Inzwischen haben die Gelsenkirchener Zechen alle dicht gemacht, jene, in der Rojeks Großvater und Vater noch als Betriebsschlosser schufteten, als letzte vor einem dreiviertel Jahr. Ruhrpottruß hat sich schwarz in die Häuserwände des Stadtteils gefressen, ein letzter Gruß an jene Zeiten, als es den Stolz auf schwere körperliche Arbeit noch gab.

Jetzt sind die Jobs knapp, der Pilskonsum ist hoch, und beim Bäcker um die Ecke kauft man das Brot vom Vortag zum halben Preis. Ein Geschäft schließt hier nach dem anderen, der Stadtteil stirbt langsam vor sich hin. Und in der Mannschaft von S04 rennen nur noch wenige herum, die als Identifikationsfiguren für das alte Schalke taugen. Der letzte echte Gelsenkirchener, Olaf Thon, hat vergangene Saison kaum noch gespielt und hört nun ganz auf. Rojek wohnte früher mit ihm in einem Haus. Er oben, Olaf unten. Hat mit ihm auf dem Bolzplatz gekickt – Olaf, erinnert sich Rojek, wollte immer mit den Großen spielen. Und er wollte immer ins Tor. Hat sich oft Arme und Beine aufgeschlagen. Aber nie geheult.

So wollten die Schalker Fans ihre Kicker: Sie sollten auf dem Rasen schuften wie sie selbst in den Zechen. Jetzt bestimmen Spieler wie Emile Mpenza, was auf dem Platz geschieht. Fußballer, die mit Technik und Übersicht begeistern, die den Ball streicheln, anstatt ihn zu treten, die Fußball aber nicht mehr arbeiten, sondern künsteln.

Und dann auch noch Andi Möller! Ausgerechnet Möller, der vom Intimfeind Dortmund kam. Rojek hat in seiner mit blau-weißen Wimpeln, Schals, Postern, Möbeln, Kerzen und Blumen voll gestopften Wohnung auch ein Bierglas mit dem schwarz-gelben Emblem der Borussia stehen. Auf der Gästetoilette. Zum Reinpinkeln. Als Rojek von Möllers Verpflichtung hörte, soff er sich abends mit einer Flasche Whisky in Grund und Boden. Doch der Schock dauerte nicht lange. Am nächsten Tag siegte, sagt Rojek, die sportliche Vernunft über den S04-Hass auf alles, was aus Dortmund kommt, für echte Schalker die verbotene Stadt. Arbeiterverein, Kohle, Malocher? Alles schön und gut, sagt Rojek, aber die Zeiten ändern sich einfach. Da kannste nix machen. Dafür gibt es ja den Dachverband der Fanclubs. Der hält alles zusammen.

Wir sind die treuesten Fans und die leidensfähigsten, sagt Rojek. Wenn Schalke absteigt, kommen trotzdem 40.000 ins Stadion, um zu toben, zu schreien, zu fiebern, zu feiern. Als Rolf Rojeks Vater vor vier Jahren im evangelischen Krankenhaus Gelsenkirchen-Horst starb, galt seine letzte Sorge der Dauerkarte: Sieh zu, Junge, dass sie dein Bruder Klaus bekommt! Dann tat Papa den letzten Atemzug, und genau in diesem Moment ging sein Wecker los. Den hatte ihm die Familie gerade ein paar Tage zuvor geschenkt. Nicht irgendein Wecker, sondern jener, bei dem sich zwei Türchen öffnen, ein paar Plastikkicker zum Vorschein kommen und den Schalker Fan-Song Nummer eins intonieren: „Steht auf, wenn ihr Schalker seid!“ Ich musste lachen, sagt Rojek, ich konnte nicht anders. So hätte es der alte Herr wohl auch gewollt. Sie haben ihn im Schalke-Trikot begraben.