Formen des Druckausgleichs

DAS SCHLAGLOCH   von KERSTIN DECKER

Politiker sind also Pressionsverantwortliche, Wartungsarbeiter. Sie kontrollieren die Ventile

Am Ende hat sie die Medaille doch gekriegt. Daniela Dahn, bekannt geworden mit Sätzen wie „Die Summe der Repressionen bleibt immer die gleiche“, illustriert am Vergleich der „poststalinistischen DDR“ mit der „finanzstalinistischen BRD“. Dabei ist das Wort „finanzstalinistisch“ nun wirklich eine Zumutung, schon rein ästhetisch gesehen. Vor kurzem wäre Daniela Dahn für die von ihr relaunchte Form des Descart’schen „Cogito ergo sum“ – Ich vergleiche, also bin ich! – noch aus der demokratischen Gemeinschaft relegiert worden. Aber das wäre wirklich voreilig gewesen.

Wir behaupten, der Dahn’sche Satz war gar keine politische Aussage, er wollte gar nicht sagen: Demokratie oder Diktatur, alles Humbug und völlig egal –, sondern es handelte sich um eine Hypothese über Druckverhältnisse. „Re-Pression“, man erkennt es doch schon am Wort. Oder nehmen wir „De-Pression“. Alles rein physikalische Phänomene. Dies wird folglich auch keine politische Kolumne, sondern eine rein physikalische.

Und nun noch Erfurt. Wir reden über Gewalt und Waffen. Die Medien überbieten sich in Selbstkritik. Wir klammern uns an das Sichtbare, an lauter Sekundärphänomene. Und keiner spricht über das Offenkundigste. Über Erfurt als Druckkatastrophe.

„Die Summe der Repressionen bleibt immer dieselbe.“ Es stimmt schon, solche Vergleichswahrheiten sind in den seltensten Fällen erleuchtet. Sie halten sich für das Ende des Denkens, dabei sind sie erst der Anfang. Aber genau darin liegt ihre Stärke. Denn es sind Erfahrungswahrheiten.

Es gehört Mut zum Aussprechen von Erfahrungswahrheiten, denn sie klingen fast immer politisch inkorrekt. Wer also sagt, dass die Summe der Repressionen immer dieselbe bleibt, sagt zugleich, dass er sich nicht scheut, Diktatur und Demokratie zu vergleichen. Das Sakrileg schlechthin. Nach Erfurt aber gibt es eine neue Verpflichtung, unser Denken nicht mehr von unseren Wahrnehmungen abzukoppeln. Politiker ahnen, dass trotz neuer Gesetze eine Katastrophe wie diese sich immer wiederholen kann. Denn es gibt einen irreduziblen, nicht erklärbaren Rest an dieser Tat. Es gibt den unberechenbaren Kern des Bösen im Menschen, sagte ein Politiker. Er verwechselte Metaphysik mit Physik.

Robert Steinhäuser aus Erfurt ist explodiert. Was uns so erschreckt hat, ist die Detonationswirkung, diese Unverhältnismäßigkeit. Explosionen sind unverhältnismäßig. Sie treffen Unbeteiligte. Man mag sich den Innendruck gar nicht vorstellen, unter dem dieser Junge gelebt hat. Wenn Psychologen, die Steinhäuser nicht kannten, jetzt von schwer wiegender narzisstischer Persönlichkeitsstörung reden, so ersetzen sie Physik durch ein Krankheitsbild. Jeder Künstler leidet unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung – kann sein, sie ist seine Produktionsbedingung. Trotzdem sind Künstler zumeist überaus harmlose, friedfertige Leute. Denn Kunst ist Druckausgleich. Die Psychologen erklären auch die De-Pression zur Krankheit, dabei ist sie ebenfalls zuerst ein Druckphänomen. Der Mensch hat keine Welt mehr, der Restraum in seiner Brust zieht sich zusammen. Sein Innendruck steigt, er scheint zu zerspringen, die Ventile versagen. Die De-Pression, sagt man, ist das neue Massenleiden moderner Gesellschaften. Und Selbstmörder? Frühere Zeitalter hielten sie für Sünder, wir halten sie für krank, aber wahrscheinlich sind sie nur Menschen, die ihren Innendrücken nicht mehr gewachsen sind. Die ein allerletztes Ventil öffnen. Es geht um Außen- und Innendrücke. Der Mensch ist ein Tier, das unter bestimmten Eigen- und Umgebungsdrücken existiert. Und Gesellschaften sind auch nur Druckkammern (Rüdiger Safranski). Sie sind verantwortlich für den Druckausgleich. Also wären Politiker Pressionsverantwortliche, Wartungsarbeiter? Sie kontrollieren die Ventile. Sobald Gesellschaften ein Dauerproblem haben mit dem Druckausgleich, sind sie gefährdet. Man nennt das dann auch Krise der Politik.

Vielleicht ist der Fall des Robert Steinhäuser nur ganz individuell zu verstehen, und doch ist er sehr allgemein. Denn er zeigt an, dass mit den Druckverhältnissen in dieser Gesellschaft etwas nicht stimmt. Die Zahl der Menschen, die aussehen, als könnten sie im nächsten Moment, beim geringsten Anlass ohne Vorwarnung explodieren, nimmt zu.

Ist die Summe der Repressionen wirklich immer die gleiche? Machen wir den Druckvergleich. Eine Gesellschaft, deren Leitwort Freiheit ist, dürfte damit im Grunde kein Problem haben. Denn Freiheit ist ein anderes Wort für die Unmöglichkeit des Entstehens von Überdrücken. Eine Diktatur dagegen scheint ein anderes Wort zu sein für die Permanenz des Überdrucks, für einen ständig überhitzten Kessel. Und doch ist die Summe der Drücke, die heute auf dem Einzelnen liegt, wohl nicht nur dieselbe, wahrscheinlich ist sie gestiegen. Daraus folgt keineswegs, dass die Diktatur im Vergleich zur Demokratie die überlegene Staatsform darstellt, wie der Trivialverstand annehmen könnte, es heißt nur, dass die DDR Formen des Druckausgleichs gefunden hat, die sogar dieses Zwangssystem lebbar machten. Es war ein so eigenwilliger Verbund von Ventilen, dass er den Unterdrückten sogar Überlegenheitsgefühle ermöglichte. Überlegenheiten sind enorm wichtig für die seelische Gesundheit. Natürlich ist zuletzt jeder selbst für seine privaten Bar-Werte verantwortlich, für seinen ganz individuellen Druckausgleich. Aber die Gesellschaft sollte die richtigen Weichen stellen. Die letzte Woche, die Post-Erfurt-Woche, gehörte den Erfahrungswahrheiten. Dem, was man sonst nicht sagt. Der Schauspieler Ulrich Mühe übergab der Öffentlichkeit die Wiener und die Hamburger Schulerfahrung seiner Tochter – anstaltsartig in Wien, entgrenzt in Hamburg –, um zu dem Schluss zu gelangen: Diese norddeutsche Liberalität sei ja etwas sehr Schönes, aber für Kinder tauge sie nichts!

Haben wir ein neurotisches Verhältnis zum Zwang, zu Grenzen überhaupt?

Der Mensch ist ein Tier, dass unter bestimmten Eigen- und Umgebungsdrücken existiert

Die Pisa-Studie ortet den Grund für das Versagen der deutschen Kinder im Vorschulalter. Es ist die prägsamste Zeit. In Deutschland ist es eine versäumte Zeit. Das letzte Jahrzehnt hat man damit verbracht, die Kindergärten der DDR als Mini-DDR zu entlarven. Kleinkinder unter Druck! Sie mussten malen, sogar dann, wenn sie vielleicht gar nicht malen wollten! – Aber hat schon mal jemand nachgedacht, welche seelische Entlastung darin liegen kann, auch mal etwas zu müssen? – Wir mussten schon wieder machen, was wir wollten!, sagen Kinder heute.

Doch wer immer machen muss, was er will, ist heillos überfordert. Vielleicht liegt es gar nicht an den Medien. Oder doch. Morgen soll in unseren Kinos „Der Graf von Monte Christo“ anlaufen. Das ist diese Geschichte, wo einer nur deshalb den Kerker überlebt, um hinterher alle umzulegen, die ihm mal das Leben versaut haben. Graf Egmont Dantes kommt zurück in die Welt wie Robert Steinhäuser in seine Schule.

Wollen wir das unseren Kindern wirklich zeigen?