Erkenntnisse über Rausch

Zweite Produktion von KASKOM: „Gifted – Die Wahrheit über den Mythos“ – abgelesen von der Theatergruppe aus Ex-Junkies an Doktor Faustus und anderen deutschen Geschichten

Ganz bewusst wird das Wort „Droge“ im gesamten Stück ausgespart. Die Gruppenmitglieder sprechen nicht gerne über ihre Vergangenheit.

von ANNETTE STIEKELE

Thomas steht allein auf der Bühne, sein Textblatt legt er auf den Boden. Dann wird er laut: „Wir wollen ehrlich sein. Wir wollen aufhören uns den ganzen Tag zu belügen. Nur wer hinschaut und den Blick nicht feige abwendet, wird sehen.“ Immer wieder schaut er auf seine Notizen. Regisseur Martin Kreidt ist noch nicht ganz zufrieden: „Sei doch freundlicher und böser“, ermuntert er seinen Akteur. Bis zur Premiere bleibt nur noch eine gute Woche, und da ist noch viel zu tun.

Gifted, das neue Projekt der Theatergruppe KASKOM, ist kein gewöhnlicher Theaterabend. Denn die zehn Laienschauspieler, die Regisseur und Autor Kreidt hier dirigiert, sind allesamt ehemalige Junkies. Wohlgemerkt ehemalige, denn „Leute, die drauf sind, haben etwas besseres zu tun, als Theater zu spielen“, so Kreidt.

Alle haben hier eine stationäre Therapie hinter sich. Und alle steckten noch bis vor kurzem tief im Drogenalltag mit seinen Begleiterscheinungen. Viele haben einige Jahre hinter Gittern hinter sich. Doch jetzt stehen sie hier, zehn Akteure zwischen 28 und 40 Jahren und sind begeistert bei der Probenarbeit.

Über einen Bekannten von der Einrichtung „Jugend hilft Jugend“ kam Kreidt auf den Gedanken, „einmal etwas anderes als Klassiker zu inszenieren“. Eine Gruppe von Interessenten war schnell gefunden, obwohl die meisten noch nie ein Theater von innen gesehen haben. Die Neugier siegte rasch über die Scheu. Das erste gemeinsame Projekt Teufelspakt ging im Juli 2001 im Monsun Theater erfolgreich über die Bühne. Bei Gifted sind wieder drei Neulinge dabei. Für die Schauspieler ist es wichtig, mit einem Profi zu arbeiten und nicht etwa mit einem Therapeuten. „Die wollen alle einen Strich ziehen und sehen das Theater als Angebot, den Kick ohne Chemie zu kriegen“, erzählt Kreidt.

Der 41-Jährige hat nach einer Schauspielausbildung in Stuttgart im ersten Studiengang in Hamburg Theaterregie studiert und in den Folgejahren vor allem Klassiker inszeniert. Heute arbeitet er in Hamburg als Dozent für Regie und Schauspiel. Das Stück hat Kreidt nach Motiven von Christopher Marlowes Doktor Faustus entwickelt. An dem Mythos reizte ihn die Rausch- und Abhängigkeitsmetapher – auch für ihn persönlich ein Thema von schier unerschöpflicher Faszination.

In der Theaterarbeit hat er mit seinen Darstellern viel improvisiert und die Figuren über die Persönlichkeiten entwickelt. Für alle ist es eine immense Herausforderung, auf die Bühne, auf die „andere Seite“ zu gehen. Da oben herrscht eine eigene Energie. Den harten Probenalltag halten alle erstaunlich gut durch. Einige haben beim Sprechen vor Publikum schon ungeheure persönliche Erfolge erlebt. Ganz bewusst wird das Wort „Droge“ im gesamten Stück ausgespart. Die Gruppenmitglieder sprechen nicht gerne über ihre Vergangenheit. Kreidt wundert das nicht: „Gegen das, was jeder Einzelne hier erlebt hat, ist unsere eigene Geschichte ein Pixibuch. Aber natürlich spielen wir offen mit der Situation, die den Zuschauern ja auch bekannt ist.“

Im Stück erzählt zunächst ein Direktor von den Schrecken des Lebens und ruft den „Chor der Elenden“ herein. Einzeln und in Gruppen tragen diese Jammergestalten anschließend zum Teil sehr poetische Texte vor. Von Jasmin, die ihre reine weiße Haut gerne im Schnee wäscht, oder von Mario, der in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen ist und jetzt wie sein Vater im Gefängnis sitzt, wo er seine Mutter vermisst. Sie alle sind von einem Faustischen Sehnen ergriffen, nach Glück, Zufriedenheit und Stabilität. In ihrer Verzweiflung rufen sie Gott an. Doch die einzige Lösung, die ihnen der „Direktor“ präsentiert, liegt in einer Tic Tac-Dose mit kleinen bunten Pillen, die Glück verheißen.

Das Projekt ist mit geringsten Mitteln entstanden. Alle Mitglieder arbeiten ohne Bezahlung. Auf Dauer wird die Gruppe KASKOM aber nur weiterbestehen können, wenn sie auch finanziell unterstützt wird. Es wäre jammerschade um so viel beispielloses Engagement.

Premiere: heute, 20 Uhr, Neues Cinema (auch morgen und übermorgen)