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: Brasiliens Coach setzt auf deutsche Tugenden

Seleção des Mittelmaßes

Gebete, Gesänge, Beschimpfungen, das Votum des Staatspräsidenten und selbst die Tränen des Stars auf einer Pressekonferenz nutzen nichts – Brasiliens Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari lässt Romário zu Hause. Bei der Vorstellung des WM-Kaders ließ der schnauzbärtige Coach mit den Feldwebelallüren durchblicken, was er dem 36-jährigen Torjäger aus Rio nicht verziehen hat: Vor einem Jahr hatte der Held der 94er-WM mit fadenscheinigen Gründen die Teilnahme an der Copa América verweigert.

Überraschungen gab es kaum bei der vorläufigen Nominierung der 23 Spieler, die in Südkorea und Japan den fünften WM-Titel für Brasilien erringen wollen. Unumstritten ist aber nur das Torhütertrio Marcos, Dida und Rogério. Als einziger Bundesligaspieler ist Innenverteidiger Lúcio von Bayer Leverkusen mit von der Partie. Immerhin zwölf der Nominierten verdienen ihre Brötchen bei brasilianischen Klubs. Doch nicht deswegen stößt die Auswahl beim Fußballvolk auf Skepsis: „70 Prozent Kraft und 30 Prozent Qualität“, auf diese prägnante Formel bringt es Valdir Espinosa, ein früherer Trainer von Corinthians São Paulo.

„Selten gab es im In- und Ausland so viele erfolgreiche brasilianische Stars wie derzeit“, diagnostizierte das Jornal do Brasil. Doch viele kreative Akteure hätten bei dem autoritären Coach keine Chance, darunter auch Bundesligastars wie Zé Roberto, Marcelinho, Amoroso oder Élber. Doch da sich Scolari „im eigenen Verhaltenskodex verstrickt“ habe, blieben nur „brave Jungs“ übrig, eine „Seleção des Mittelmaßes“.

Andere Kommentatoren gehen weniger streng mit „Felipão“ Scolari ins Gericht. So habe der Nationalcoach seine „Familie“ allmählich um Jungtalente wie den leichtfüßigen Ronaldinho Gaúcho erweitert, lobt Exnationalspieler Tostão, der die geduldige Aufbauarbeit Scolaris schätzt. Dessen größtes Verdienst sieht er jedoch darin, dass er voll und ganz auf den lange verletzten Ronaldo setzt. Auch die Fangemeinde hofft, dass der 25-jährige Stürmer von Inter Mailand bei der WM wieder an seine große Form von 1996/97 anknüpfen kann. Zwar hat Ronaldo erst wieder zwei halbe Partien im Nationaltrikot absolviert, doch seine Leistungskurve wies in den letzten Monaten nach oben. Dagegen konnte der angeschlagene Rivaldo nur noch selten überzeugen – Vereinsarzt Ricard Pruna vom FC Barcelona etwa bezweifelt, dass er das ganze Turnier durchstehen kann.

Die größte Schwäche der „Seleção“ liegt im Mittelfeld. Vor allem beim raschen Übergang von Defensivsituationen in die Offensive hapert es, wie sich auch bei den Freundschaftsspielen in diesem Jahr gezeigt hat. Zwar ist die blamable Niederlagenserie von 2001, als sich Brasilien erst im letzten Qualifikationsspiel das WM-Ticket sicherte, vorbei. Überzeugen konnte das Team aber auch gegen Jugoslawien (1:0) oder Portugal (1:1) nicht. Vor allem deswegen hält sich der Optimismus in Brasilien in Grenzen – zu groß scheint derzeit der Abstand zu Spitzenteams wie Frankreich oder Argentinien.

Kenner der Szene gewinnen der Dauerkrise der Nationalelf ihre guten Seiten ab – sie sehen in ihr auch einen Reflex des äußerst korrupten brasilianischen Fußballbetriebs. Sollte die Seleção bei der WM scheitern, könnte es leichter fallen, die durch mehrere Parlamentsausschüsse schwer belastete Führungsclique um Verbandschef Ricardo Teixeira zu entmachten. Ein WM-Titel hingegen werde den tristen fußballpolitischen Status quo stabilisieren, unken die Skeptiker.

In der Vorrunde sind die Gelb-Grünen trotz allem klare Favoriten gegen die Türkei, China und Costa Rica. Bei der ersten guten Partie, das ist sicher, bricht auch in Brasilien wieder das Fußballfieber aus – Romário hin oder her. Und bis zum Achtelfinale Mitte Juni könnte „Felipão“ aus seinem viel geschmähten Kader eine schlagkräftige Stammelf geformt haben – mit Spielern, die heute noch nicht in aller Munde sind. GERHARD DILGER