Der Bürger als Soldat

Das Bürgertum war früher keineswegs nur friedlich und liberal ausgerichtet – wie die Forderung nach allgemeiner Wehrpflicht zeigt

von CHRISTIAN JANSEN

Kant und andere Vordenker der bürgerlichen Gesellschaft gingen davon aus, dass Liberalisierung und Demokratisierung zu fortschreitender Zivilisierung des Menschen und zur Einhegung sowohl der innerstaatlichen Gewalt als auch des Krieges führen werde. Gleichwohl war der bürgerlichen Ideologie von Anfang an auch ein spezifischer Militarismus inhärent. Oder, vorsichtiger formuliert, die zunehmend selbstbewussteren Bürger waren überzeugt, dass sie die besseren Soldaten seien.

In den bürgerlichen Konzepten des frühen 19. Jahrhunderts wurde die Wehrpflichtigenarmee oder „Nationalmiliz“ als großer Fortschritt im Vergleich zu den stehenden Heeren absolutistischer Fürsten vorgestellt. Sie sollte volksnäher sein und nicht mehr „gegen das Volk“ eingesetzt werden können, wie es der badische Liberale Karl v. Rotteck 1816 in seiner Schrift „Über stehende Heere und Nationalmiliz“ dargelegt hat, die den bürgerlich-oppositionellen militärpolitischen Diskurs paradigmatisch geprägt hat. Die neuen, egalitären und demokratischen Ideen besagten, dass jeder Mann militärische Verhaltensweisen und Maximen erlernen müsse. Kriegführen sollte nicht mehr das Handwerk einer abgesonderten Kaste sein, sondern die Aufgabe aller Bürger. Der Militärhistoriker Wolfram Wette hat die dahinter stehende Hoffnung von Liberalen und Demokraten in die Formel „Kriegsverhinderung durch allgemeine Volksbewaffnung“ gefasst. Die Wehrpflichtigenarmee, die in den Kriegen des 19. Jahrhunderts und dann in den beiden Weltkriegen des vorigen Jahrhunderts zu einer ungeahnten Steigerung der Opferzahlen führte, sollte also ursprünglich Kriege zu verhindern helfen.

Als die preußische Militärmonarchie 1813 die allgemeine Wehrpflicht einführte, befand sie sich in äußerster Not. Mehrfach vernichtend geschlagen durch die napoleonischen Armeen, ließ sich der König zu einem neuen Krieg gegen Napoleon überreden und vor allem dazu, diesmal auf die nationalistische Karte zu setzen, also Methoden des Gegners zu kopieren und insbesondere die jakobinische Idee der allgemeinen Wehrpflicht zu übernehmen. Die alte preußische Armee sei eine Ansammlung von „Ausländern, Vagabunden, Trunkenbolden, Dieben, Taugenichtsen und Verbrechern aus ganz Deutschland“ gewesen, argumentierte der in Militärfragen maßgebliche Reformer Scharnhorst. Die Grundlagen der künftigen Wehrpflichtigenarmee sollten hingegen Patriotismus, Staatsangehörigkeit, männliche Ehre und Tugendhaftigkeit sein.

Rechtlich und symbolisch stand die allgemeine Wehrpflicht damit am Anfang des Weges aus der Ständegesellschaft hin zu einer modernen, bürgerlichen Staatsverfassung. Zum ersten Mal in der preußischen Geschichte wurden in den neuen Militärgesetzen die Untertanen „ohne Unterschied der Geburt“ angesprochen, war von „Untertanen des Staates“ und nicht mehr „des Königs“ die Rede. Deshalb griffen die Vordenker und Publizisten des Bürgertums die Initiativen zur Schaffung einer preußischen Nationalarmee begeistert auf. In großer Zahl meldeten sich 1813 bis 1815 Kriegsfreiwillige – allen voran die immer für politische Richtungswechsel besonders sensiblen Studenten. Wenn auch Bürgerliche, die bis dahin große Distanz zu den absolutistischen Staaten gehalten hatten, nun in Scharen in deren Armeen eintraten, spielte nationalistische Begeisterung eine erhebliche Rolle, aber auch die Hoffnung, über die militärische Bewährung sei die Emanzipation des Bürgertums und die Durchsetzung bürgerlicher Werte und Tugenden möglich.

Dass es sich bei der Einführung der Wehrpflicht nur um ein der Monarchie abgenötigtes Zugeständnis handelte, zeigte sich an der eigenartigen Konstruktion der neuen preußischen Armee, die nun im Wesentlichen aus zwei Elementen bestand: einerseits aus der „Landwehr“, einer Reservearmee allein für den Kriegsfall, in der Bürgerliche sogar Offizier werden konnten, andererseits aus der „Linie“, dem herkömmlichen stehenden Heer mit seinen ausschließlich adligen Offizieren, deren Mannschaften aber jetzt nicht mehr Söldner, sondern Wehrpflichtige waren. Dieses Modell wurde von allen wichtigen deutschen Staaten kopiert.

Die Hoffnungen auf eine moderne Staatsverfassung und eine Verbürgerlichung der Gesellschaften wurden jedoch nach 1815 enttäuscht. Die Monarchen hielten sich nicht an ihre Reformversprechen aus der Zeit der antinapoleonischen Kriege. Aber auch wenn das Bürgertum politisch nichts zu sagen hatte, entwickelte sich unter den absolutistischen Oberflächen die bürgerliche Gesellschaft weiter. In den Familien, in der Literatur, in Vereinen, kulturellen und wohltätigen Gesellschaften wurden die neuen bürgerlichen Tugenden und Ehrbegriffe verbreitet und eingeübt. In besonders ausgeprägter Form verkörperte die „Deutsche Burschenschaft“ die bürgerliche Männlichkeit. Hier wurde von der studentischen Elite ein neuer, komplexer Wertekanon eingeübt: Opposition gegen den Obrigkeitsstaat, teilweise demokratische innere Strukturen, Duelle als Beweis der Männlichkeit und zur Verteidigung der „Ehre“, Kult der antinapoleonischen „Befreiungs“-Kriege und des Germanentums sowie ein ethnisch fundierter Nationalismus.

Als 1848 die neoabsolutistischen Regime (vorübergehend) stürzten, übernahm die großenteils in der Burschenschaft sozialisierte bürgerliche Elite die politische Führung. Sie rückten in Regierungsämter auf, und in der Deutschen Nationalversammlung stellten Burschenschafter rund ein Viertel der Abgeordneten. Sie bestimmten vor allem den Kurs der linken Fraktionen, also der Demokraten und Linksliberalen, maßgeblich mit. Allerorten bildeten sich Bürgerwehren. Während diese Verbände bewaffneter Bürger in der Lage waren, Krawalle und Übergriffe von Angehörigen der Unterschichten in Schach zu halten, hatten sie im Kampf gegen die Fürsten keine Chance, da die regulären (Linien-)Truppen loyal blieben.

Obwohl sich aus diesen Gründen bereits im Sommer 1848 die krasse militärische Unterlegenheit der Revolutionäre gezeigt hatte, versuchten sie in ihren südwestdeutschen Hochburgen im Frühjahr 1849 noch einmal eine (aussichtslose) Konfrontation mit der preußischen Armee. Schließlich, im Gefängnis, im Exil oder als Geschlagene zurück in der Heimat, mussten sich die Achtundvierziger eingestehen, dass sie im Duell mit der Staatsmacht versagt hatten. Die meisten litten lange am Trauma dieser Niederlage und empfanden sie auch als Infragestellung ihrer Männlichkeit.

Gerade die Demokraten setzten nach der Revolution, deren Scheitern vielfach auf das Fehlen militärischer Macht zurückgeführt wurde, auf eine Militarisierung der bürgerlichen Gesellschaft. Im Rahmen der populären Schützen- und Turnervereine wurden allerorten paramilitärische Übungen durchgeführt. Diese „Wehrpolitik“ der bürgerlichen Vereine verfolgte ein doppeltes nationalpolitisches Ziel: Einerseits sollten die Regierungen bewegt werden, die stehenden Heere durch Volksmilizen zu ersetzen. Andererseits sollten die Bürger auf den erwarteten Einigungskrieg vorbereitet werden.

Diese Militarisierung der Nationalbewegung resultierte nicht nur aus der Niederlage von 1848/49, sondern reagierte auch auf die jüngste Entwicklung in Europa. Denn erstens hatten bei der Einigung Italiens Freischaren militärisch ausgebildeter Bürger eine große, in der deutschen Öffentlichkeit jedoch überschätzte Rolle gespielt. Ihr Anführer, Garibaldi, wurde zum ersten Popstar des 19. Jahrhunderts und als erfolgreicher Nationalkrieger ein Rollenmodell für demokratisch gesinnte junge Männer in der gesamten westlichen Hemisphäre. Und zweitens setzte die Expansion Frankreichs unter Napoleon III. massive Ängste vor einer Wiederholung der Niederlage von 1806 frei. Alle bürgerlichen Strömungen waren sich einig: Nur ein siegreicher Krieg gegen Frankreich mache den Weg zur deutschen Einheit frei. Das neue, bürgerliche Männlichkeitsideal setzte sich also vor der Reichsgründung zusammen mit dem Ideal des Nationalstaats in mehreren Schritten durch: von den antinapoleonischen Kriegen über die Burschenschaft und die bürgerlichen Vereine des Vormärz, die Achtundvierzigerrevolution und die neue Einigungsbewegung der Jahre 1857 bis 1871.

Die Vorstellungen, dass der freie Mann bereit sein müsse, fürs Vaterland zu sterben, dass der künftige Nationalstaat nicht nur freiheitlich, sondern auch mächtig sein sollte und dass die nationale Einigung nur durch einen Krieg zu erlangen sei, bedeuteten keine Unterwerfung des liberalen Bürgertums unter den „preußischen Militarismus“. Diese Ideen setzten sich vielmehr in einem langen Prozess der bürgerlichen Selbstorganisation und Selbstmobilisierung durch. Nicht einmal die bürgerliche Frauenbewegung stellte das männlich-bürgerliche Rollenmodell in Frage. Auch die meisten frauenbewegten Mütter erzogen ihre Söhne zu Nationalkriegern und schickten sie 1914 ermutigend in den Krieg.

CHRISTIAN JANSEN, 45, lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum und ist derzeit Sprecher des „Arbeitskreis Historische Friedensforschung“Zusammen mit der Heinrich-Böll-Stiftung organisiert er vom 1. bis 3. November in Berlin eine Tagung unter dem Titel „Der freie Bürger als Soldat. Demokratischer und liberaler ‚Militarismus‘ im 19. Jahrhundert im internationalen Vergleich“. Nähere Informationen und (ab Juni) das genaue Programm unter www.boell.de