Klettergerüst mit Sprinkleranlage

Im Ostberliner Volksmund heißt er „Nuttenbrosche“: der „Brunnen der Völkerfreundschaft“ am Alexanderplatz, der gemeinsam mit Fernsehturm und Weltzeituhr schon Kult war, als Kult noch kein Begriff war. Nachdem er ein halbes Jahr restauriert wurde, soll er an Pfingsten wieder Wasser speien

von THOMAS MARTIN

Als das bauzaunumzäunte Gelände noch ostdeutsches Hoheitsgebiet war, kam jede Menge Wasser raus, von April bis Oktober. Seit Jahren fällt nur Wasser rein, fließt ab und kommt nicht wieder. Jahrelang war mehr Müll als Wasser drin, dann gar nichts mehr. Bis auf die Einfassung war der Brunnen verschwunden. Seine (der Erinnerung nach: 20) Wasser speienden Stempel mit den Kupferschalen obendrauf, die das Mittelpodest verzierenden Emailleplatten, die Kacheln, das ganze Kunstgewerbe demontierten die Klempner. Jetzt schrauben sie alles wieder an. Brunnenaufbau und Zierrat sind aufwändig restauriert, als Denkmal eingestuft und sollen bald wieder leuchten.

„Brunnen der Völkerfreundschaft“ hieß er, als er 1969 sein Taufwasser losließ. Vergleichsweise zierlich im kunstvoll gestalteten Ensemble ringsum, zu dem das Relief am Haus des Reisens nördlich („Der Mensch überwindet Zeit und Raum“) bzw. die Bauchbinde um das Haus des Lehrers südlich des Alexanderplatzes gehört, sämtlich vom selben Künstlerkollektiv entworfen, Kunst am Bau des Sozialismus.

Der Völkerfreundschaft war der Wasserspender mindestens einmal von Nutzen. Der frühe Höhepunkt kam anlässlich der Weltfestspiele der Jugend – „Ja ja, wir treffen uns auf jeden Fall / Sommer 73 zum Jugendfestival“ –, als die Jugend zu tausenden in himmelblauen Uniformen oder ohne, teils sogar ganz ohne, am Brunnen, auf dem Brunnen und im Brunnen saß.

War zuvor das bloße Beinereinstecken angesichts der dauernden VoPo-Patrouillen undenkbar, war nun plötzlich alles möglich, und, bis auf die Mauer, alles offen. Die Köpfe sahen alle nach Angela Davis aus, die, eben aus US-amerikanischer Klassenhass- und Rassenhass-Haft befreit, die Königin der Festspiele war. Mehr konzentrierten Afrolook hat nur Woodstock gesehen. (Die zweitgrößte Attraktion des Festivals wäre der tote Ulbricht auf Eis gewesen, aber davon wusste ja niemand.) Jedenfalls seit August 1973 war, nachdem die Völker dort gebadet hatten, Fußbad auch für Eingeborene erlaubt.

Der Brunnen war mit Fernsehturm und Weltzeituhr schon Kult, als Kult noch kein Begriff war. Er zog Geschichten an wie der Magnet die Nadeln. „Nuttenbrosche“ sollte Volksmund sein, aber niemand wusste, ob wegen der bunten Emailleplaketten oder weil hier der unsichtbare Straßenstrich verlief.

Die populärste Farbe gehört Manfred Krug, der jene Waschpulverattacke ausgeführt haben soll, in deren Folge der Brunnen bis zum höchsten Sprudelpunkt unter Schaum verschwand, den der Wind als Spee-Reklame über den Platz trieb. Als Spaßprotest gegen die unfreiwillige Ausreise sehr einprägsam, als Werbegag seit 1977 patentiert.

Eine andere Legende schreibt Krug den Aufstieg über die Brunnenschalen zu, im Vollrausch, singend natürlich, und zum Gaudi des wie immer zahlreichen Platzpublikums. Tatsächlich war es Günter Kotte, der in Klaus Schlesingers ostberlinischer Novelle „Alte Filme“ besoffen übers Wasser kletterte.

Dass die DDR auch an jahrzehntelanger Springbrunnenwasserverschwendung zugrunde ging, ist ein offenes Geheimnis. Die billigen Brötchen, die billigen Fahrkarten, die billigen Mieten (soll nicht wieder passieren). So gesehen ist die Finanzknappheit ein Segen, Mitte ist genauso arm wie Ganzberlin, und mehr als eine Schale (von schätzungsweise 20; ich hab sie im Dunkeln gezählt) wird wohl am Tag kaum sprudeln.

Doll gesprudelt hat er nie, eher waren da blubbernde Geysire. Außerdem schwamm immer eine Kilotonne Dreck drin rum, und wenn Wind über den Platz fuhr, wurde man noch hundert Meter weiter nass. Und hier war immer Wind. Es zog immer, man wusste schon, warum Moskau näher lag als der Ku’damm. Großzügig war das Zentrum in jeder Hinsicht bebaut, hohe Häuser, weiter Abstand, dazwischen große Plätze, breite Alleen.

Wer von der Fernsehturmkugel aus den Platz von oben gesehen hat, die spiralstrudelförmig ausgelegten Kacheln zwischen den Kaufhäusern, weiß, was ich meine. Nach Heiner Müllers unsterblicher Meinung war der Platz so konzipiert, dass er mit einem MG von jedem beliebigen Punkt in Traufhöhe aus abgeräumt werden könnte.

Solche Weitläufigkeit kann auch Nachteile haben. Als letzten Oktober vor der Senatswahl Horst Mahler für die NPD vom Lastwagen aus zu hundert Anhängern und zweihundert Punks sprach, war erstens akustisch nichts zu wollen, zweitens flogen ihm die Zettel weg. Ebenfalls ungünstig wirkte sich die Platzakustik am 4. November 1989 aus, als der Durchschnitt der DDR-Bevölkerung für die friedliche Revolution stimmte, die, hätte die Million auf dem Alex alles richtig verstanden, vielleicht anders ausgegangen wäre.

Dafür kann man oft genug Amerikanern oder Russen im Fernsehen begegnen, die schwärmen: über die Freizügigkeit, die Weite im Raum, die von Stadtplanern als absolut unzeitgemäß gewertet wird.

Vermutlich wird die provisorische Jetzt-Situation als ebenso unzeitgemäß gelten, das byzantinische Gewimmel um Fress- und sonstige Buden, Baustellen, Passanten, Skateboarder, Dealer, Kunden und die Straßenbahn. Und, vorläufig unberührt von allem, der Brunnen. Denn auch wenn er aufgemöbelt ist, kann er seiner Bestimmung ohne Wasser nicht näher kommen.

So muss das von der letzten Kita-Demo liegen gebliebene, nun im Bauzaun klemmende Pappschild „Stellt euch vor, ihr seid Kinder!“ als Aufschrei gegen den Wassersparzwang gelesen werden. Oder als Missverständnis, falls die Plakatbeschrifter das nackte Brunnengerippe für ein Klettergerüst mit Sprinkleranlage hielten, dem der Zugang versperrt ist. Sie hatten sich womöglich an die nächtlich leuchtende Cubix-Reklame gehalten, die formuliert, was man nicht immer tun sollte: „Ich glaube nur / was ich sehe / Ich glaube nur / was ich sehe S“.

Schlesinger konnte wenigstens noch zählen: „S hinein in das klare Wasser, in dem Papierfetzen schwimmen und, Schiffchen gleich, zwei leere Eisbecher. Schön kalt, ruft Kotte und schwankt unmerklich. Langsam zieht er eine Runde um den bunten Emaillefries, der den höher liegenden, siebzehn (!) Kupferschalen tragenden Mittelaufbau begrenzt.“ Das wird so schnell nicht wieder passieren.