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Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser

Lieben im gläsernen Käfig: Chantal Akerman hat sich in der Verfilmung von Marcel Prousts „Die Gefangene“ auf den Krisenherd der Zwischenmenschlichkeit konzentriert

Das Proust’sche Begehren ist ein merkwürdiger Reflex, ein leicht wehmütiger Irrationalismus in einer komplett versinnlichten, gleichzeitig snobistischen Welt. So zumindest hat Proust seine „Suche nach der verlorenen Zeit“ entworfen. Leben und Kunst, Leidenschaft, Hingabe und Kalkül: Alles verwob sich zu integren Wertemodellen, die seine Figuren vor Prüfungen parzifalischen Ausmaßes stellten.

Am Ende dieses Prozesses stand das Kunstwerk als ultimative Instanz der persönlichen (und damit auch gesellschaftlichen) Wertbildung da. Und um den nächsten Schritt hin zu einer neuen, ernsthaften Form von Modernität vollziehen zu können, musste das Projekt „Liebe“ schließlich zur Zivilisationskrankheit erklärt werden.

Mit dieser Erkenntnis endet „Die Gefangene“, der fünfte und letzte (nahezu) vollendete Band der Proust’schen „Recherche“, und sie ist das Thema, das Chantal Akerman an dem Stoff auch am meisten interessiert hat. Akerman hat von der „Gefangenen“ nur ein narratives Skelett übrig gelassen; zu wenig, um dem Werk wirklich gerecht werden zu wollen. Genug, um dem Motiv einer unmöglichen Liebe zwischen Entfremdung und Verlustängsten eine allgemeine Gültigkeit zu verleihen. Schließlich ist Modernität nur noch ein Accessoire, mit dem man sich sein Leben nett einrichtet.

Akermans ernsthafte Konzentration auf diesen Krisenherd der Zwischenmenschlichkeit macht ihre Verfilmung von „Die Gefangene“ zu einem perfekt klaustrophobischen Kammerdrama. Sie hat Prousts Figuren aus dem gesellschaftlichen Leben herausgelöst und in einen gläsernen Käfig gesetzt, so wie es auch Simon mit seiner Liebsten Ariane gemacht hat. In dieser Beschränkung der Handlungsräume und Personen erreicht Akerman eine erkenntnisreiche Wucht. Zugleich stehen die Lebenssphären dieses unmöglichen Liebespaares dermaßen unter dem Druck eines tief greifenden Überwachungsszenarios, dass jegliche Emotionalität aus den einzelnen Handlungen, aus Gestik und Sprache getilgt ist. Im Zustand der Hermetik bekommen Akermans Bilder eine fast analytische Klarheit.

Sehr unterkühlt ist ihr Ton, sehr gekünstelt das Ambiente. Im Raster der Akerman’schen Kinematografie – fließende Langeinstellungen, unscharfe Hell-Dunkel-Kontrastierungen – entwickelt dieser Manierismus eine beklemmende Unerbittlichkeit. Genauso unerbittlich, wie Simon mit seinen Kontrollritualen das Leben seiner Ariane zu sanktionieren versucht. Selbst das wenige „Außen“ dieser geschlossenen Lebenswelt unterliegt klaren Restriktionen.

Schon die Eröffnungssequenz ist eine klassische „Vertigo“-Szene. Ein Mann, Simon, verfolgt in seinem Wagen eine Frau, Ariane, durch Paris, vergewissert sich ihres Tagesablaufs und ihrer Anwesenheit; erst viel später führt sie ihr Weg wieder zusammen: in seinem Appartement, wo es sich die beiden zusammen mit Simons Mutter und ihrem Hausmädchen in eleganter Großbürgerlichkeit eingerichtet haben. Außerhalb dieser Räume benutzt er Arianes Freundin Andrée als Agentin seiner krankhaften Eifersucht, nicht wissend, dass sich seine Komplizin längst gegen ihn gewendet hat. Denn je unnachgiebiger er seine Bemächtigungspraktiken auf Ariane ausübt, desto mehr entzieht sich das Mädchen seiner Kontrolle. Ihre ganze Beziehung unterliegt Umgangsritualen: das gemeinsame Baden, getrennt durch eine Milchglaswand, ihr Freizeitverhalten, selbst die Stunden des körperlichen Miteinanders. Jede schützende Geste ist eine Vereinnahmung, jede Hilfe eine Kontrollmaßnahme, jeder Kuss ein Knebel. Und bereitwillig lässt sich Ariane auf seine Kontrollavancen ein, in dem Wissen, dass er ihr Innerstes nie in Besitz nehmen wird. Ariane hat sich in Simons Liebesgefängnis eine autonome Zone geschaffen und ihm den Zugang verwehrt. Und Simon weiß von diesem unergründlichen Ort, dieser Verschwörung und, wie er glaubt, Untreue, weswegen seine Verhöre immer rigider werden.

Er kann ihr nur nah sein, wenn er alles über sie weiß, wenn er sie sich völlig verinnerlicht hat. Sie wiederum versucht ihm beizubringen, dass nur diese letzten Geheimnisse zwischen Menschen noch die Grundlage einer Liebe sein können: „Der Zufall, das Verlangen, die Angst und der Tod bewirken, dass sich Männer und Frauen schließlich allein von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen.“ Ihre kleine Affäre mit Andrée ist ihre Flucht vor der Einsamkeit mit Simon.

Akerman beobachtet die Trieb- und Machtstruktur dieses sehr sensiblen Beziehungsmodells allerdings von einer überraschenden Warte aus, die in letzter Konsequenz (auch in Bezug auf Akermans bisheriges Gesamtwerk) nicht ganz einleuchten will. Statt sich in der Schilderung dieses Kräfteverhältnisses auf die wunderbar bezugsreichen und produktiven Emanzipationsgeschichten Arianes zu konzentrieren und sie damit auch aus der im Titel gegebenen Rolle der Unterdrückten – was sie im Gegensatz zu Simon nicht ist – zu befreien, bleibt Akerman der Monomanie Simons verhaftet und lässt ihren Film damit zum Dokument des Scheiterns einer männlichen Erfahrungswelt regredieren. Ariane bleibt ein ätherisches, fast nymphenhaftes Mädchen, dessen Emanzipationsversuch schließlich bestraft wird. Die herausragenden utopischen Momente stehen im Widerspruch zu den pessimistischen Entwürfen, die aus der permanent aufgeworfenen Vertrauensfrage resultieren. Diese Manie hat das Realitätsbild Simons bereits verzerrt: Zwei Lügen sind eine Verschwörung, vier ein Vertrauensbeweis.

So bleibt das letzte Bild nach Akermans merkwürdiger Prioritätenverschiebung nur ein bibberndes Häufchen Mann. Die Frau ist längst verschwunden. Ariane, die bei Proust noch Albertine hieß, klingt auf Französisch wie „à rien“. Ein Nichts.

ANDREAS BUSCHE

„Die Gefangene“. Regie: Chantal Akerman. Mit Stanislas Merhar, Sylvie Testud u. a. Frankreich 2000, 108 Min.

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