bascha mika über Gegengift: Wir in Deutschland
Die Stimmung im Land ist schlecht wie selten. Wer nach dem Warum fragt, findet Antwort beim Kanzler und der „FAZ“
Wer bin ich? Wo stehe ich? Wohin gehe ich?
Am besten sofort ins Bett, sagt mein Lieblingsreaktionär ungnädig, existenzielle Fragen beantwortet man sicherheitshalber im Schlaf.
Du vielleicht. Der Rest des Landes ist in tiefe Depression versunken, weil es keine gemeinsamen Antworten mehr auf das Woher und Wohin gibt.
Als hätten wir keine anderen Sorgen.
Eben drum. 11. September, Globalisierungsängste, Erfurt, Arbeitslosigkeit. Das treibt selbst den Kanzler in die Sinnsuche.
Ich-Schröder gründelt nicht, stellt mein Lieblingsreaktionär fest, wer wie er davon überzeugt ist, Demokratie erschöpfe sich in der Wahl einer politischen Führungsfigur, hat zurzeit genug damit zu tun, charismatische Appelle loszuwerden.
Charismatisch ist, wer einen Nerv trifft – und Gerhard Schröder hat den Hauptnerv noch nicht gefunden. Die Stimmung im Land ist schlecht wie noch nie, leidenschaftlich wird pessimistelt und gejammert. Da steht er nun, ist Spitzenklasse im Inszenieren und Vermarkten seiner Person, und niemand weiß es zu schätzen. Irgendwie will das Volk noch was anderes. Aber was? Schröder weiß es nicht. Also fragt er einen, den er für intellektuell hält: Martin Walser. Thema: wir in Deutschland. Ort: natürlich öffentlich, damit alle mithören können.
Was will der Kanzler denn so wissen?
Wie wir uns denn so fühlen in Deutschland. Wie wir’s denn so halten mit der Nation, dem Patriotismus und der demokratischen Kultur.
Was gibt’s da zu halten? Eine Nation sind wir, eine Demokratie haben wir, den Patriotismus erledigt die deutsche Elf.
Eigentlich dreht es sich doch um die Frage, was diese Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Was für einen Sinn hat unsere Existenz, wenn wir uns nur noch darüber definieren, was wir können und was wir besitzen, wenn uns nichts antreibt außer der Sucht nach Gewinn. Wenn ein Mensch brutal ausrastet, weil er sich ohne Abitur fühlt wie das reine Nichts …
Wieso kommst du jetzt mit Erfurt?
Glaubst du, dass jemand Amok läuft wegen Gewaltvideos und Horror im Fernsehen? Hier ist grundsätzlich was faul. Aber da will niemand ran. Also lädt der Kanzler die Fernsehintendanten zu Palaver und Schnittchen und verschärft ein bisschen das Waffengesetz – lascher als in anderen europäischen Ländern ist es dann immer noch.
Kannst du dich vielleicht etwas präziser äußern?, fragt mein Lieblingsreaktionär angesäuert.
Wieso hast du ein Problem, das Problem zu verstehen? Wir leben in einem der reichsten Länder der Erde, gleichzeitig sind wir zerfressen von einer hysterischen Abstiegsangst. Erst produzieren wir die Zweidrittelgesellschaft, weil wir die Solidarität mit den Schwächeren aufkündigen, dann sind wir ständig damit beschäftigt, nicht selbst ins letzte Drittel abzurutschen. Wir proklamieren Werte wie Menschlichkeit und Gerechtigkeit, dabei ist das Einzige, was gilt: Erfolg, Geld, hemmungsloses Trachten nach dem eigenen Vorteil – siehe Kölner Müll und Biedenkopfs Ikea-Rechnung. Nur wer was leistet, zählt, das ist schon wahnhaft. Ökonomisierung aller Lebensbereiche nennt man das. Wer weder einen Job hat noch Geld, ist eine nichtsnutzige Null. Es gibt nichts, woran er sich halten kann.
Überlass das kulturpessimistische Gequake den Feuilletons. Die greinen genug über den Niedergang unserer abendländischen Werte und Tradition. Außerdem – ich hör immer Leistungswahn. Da kann ich nur sagen: rote Laterne in Europa. Was wir bräuchten, ist eine Kultur der Anstrengung.
Wohl mal wieder den Leitartikel der FAZ gelesen?
Das Problem ist, das wir keinen Krieg haben …
Wie bitte?
… sagt die FAZ. Unsere Schlaffheit und Antriebslosigkeit resultiere unter anderem daraus, dass wir weder in einer Vorkriegs-, Kriegs- noch Nachkriegszeit leben, sondern in einer Art Nebenkriegszeit.
Und was haben diese Leistungsrhetoriker dem Sinnsucher außer Drohszenarien zu bieten?
Das wird dir gefallen, lächelt mein Lieblingsreaktionär hinterhältig. Die FAZ empfielt Deutschland Blut, Schweiß und Tränen! Noch irgendwelche existenziellen Fragen?
Fragen zu Gegengift?kolumne@taz.de
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