„Ich bin stolz, Europäer zu sein“

„Phil Collins hat fünfmal mehr Platten verkauft als ich. Macht ihn das etwa wichtiger als mich? Nö.“„Würde sich England richtig in der EU engagieren, dann wäre der Nahostkonflikt an einem Nachmittag gelöst.“

Interview ARNO FRANK

taz: Die aktuelle Single von Oasis heißt „Hindu Times“ wie die indische Zeitung …

Noel Gallagher: Eine Zeitung nur für Hindus, genau. Eigentlich hätte das Album so heißen sollen. „Hindu Times“ ist einfach ein großartiger Name. Wenn du ihn aussprichst … wow! Ich hasse Bands, die ihre Alben nach einem der Songs benennen. Ich finde das … faul. Pink Floyd zum Beispiel nennen einen Song „Set The Controls For The Heart Of The Sun“, und ich meine: Fuck, was soll das denn heißen? Und dann hörst du den Song und keines dieser Worte kommt darin vor. Manche Leute versuchen, zwischen den Worten eine Verbindung herzustellen. Andere nicht. Aber wenigstens bringt es die Leute wieder zum Nachdenken. Keine schlechte Sache, das Nachdenken.

Bei Oasis scheint das aber nie wichtig gewesen zu sein.

„Definitely Maybe“ hat großartige, jugendliche, ehrliche Lyrics. Ganz unprätentiös, einfach: Ich will hier raus, ich will in die Stadt, ich will dahin, wo die Sonne scheint, ich will Drogen, ich will verdammten Alkohol, ich will verdammte Frauen und ich will das alles verdammt noch mal jetzt!

Heute Abend werde ich ein „Rock ’n’ Roll Star“ sein, ich will ewig leben – und ich will „Cigarettes & Alcohol“?

Ganz genau. „Rock ’n’ Roll Star“, „Live Forever“ und „Cigarettes & Alcohol“ definieren für mich die Neunziger. Von den Alben „Morning Glory“ bis zu „Standing On The Shoulders“ waren mir die Texte nicht so wichtig, sie sollten nur irgendwie das Gefühl der Musik begleiten. Jetzt ist das anders.

Warum?

Weil ich keine Drogen mehr nehme.

Kein Kokain?

Kein Kokain mehr. Ich denke, dass ich insgesamt 600.000 Pfund dafür ausgegeben habe …

Weniger als Elton John.

… aber immerhin. Schau, ich bin jetzt 35 Jahre alt, ich habe Kinder, ich habe eine Scheidung vor mir, ich bin metertief durch die Scheiße gestiefelt. Jetzt freue ich mich auf die Zukunft. Früher habe ich alles selbst geschrieben, aber heute muss ich nur sechs Songs für ein Album schreiben, weil sich auch andere einbringen – Liam beispielsweise. Also sage ich, es sollen verdammt noch mal nur meine besten Lyrics sein, die auf das Album kommen. Außerdem fühle ich mich als Autor sicherer. Plötzlich kann ich ausdrücken, was mich bewegt. Die letzten sechs Jahre ging das nicht so leicht, aber heute fließt es einfach.

Ist Altern für Sie ein Thema?

Ich treffe viele junge Leute, die jammern: „Verdammte Scheiße, ich werde demnächst 30 Jahre alt, ich bin nicht mehr 24.“ Und ich sage: „Verdammt, es ist ein Privileg, so alt zu werden!“

Der jugendliche Habitus war Oasis immer sehr wichtig. Die Uhr zurückdrehen und zehn Jahre jünger sein – wünschen Sie sich das nicht manchmal?

Nein, Scheiße, nie im Leben! Es ist verdammt schrecklich, 24 zu sein: Du hast keinen blassen Schimmer, kein verdammtes Konzept darüber, was dich noch alles erwartet. Ich lebe jetzt, mit 35, eigentlich besser als mit 25.

Wegen des Gelds auf dem Konto.

Auch. Aber wenn du jung bist, dann machst du nur … (hier rutscht der Künstler fast vom Sofa, legt den Kopf in den Nacken, schüttet imaginäres Bier in sich hinein, dreht einen imaginären Joint und zieht abschließend heftig die Nase hoch) … und das ist auch gut. Aber wenn ich 45 bin, will ich mich daran erinnern, wie es war, 35 zu sein. Wie war das mit 25 Jahren? Ich weiß es nicht, ich hab’s verdammt noch mal vergessen, alles im Nebel, alles ein riesiges Saufgelage.

Könnten Sie dem 25-jährigen Noel begegnen, welchen Rat würden Sie ihm erteilen?

Alles wird gut. Behalte deinen Optimismus. Wenn die dunklen Wolken kommen, dann vergehen sie auch wieder. Das tun sie immer. Die Welt ist rund. Alles ist rund. Die größte Erfindung aller Zeiten, das Rad, ist rund. Dinge gehen vorbei. Nichts bleibt für immer gleich. Völlig egal, in welchen Riesenhaufen Scheiße du geraten bist – seien es Drogen, seien es Geldprobleme, seien es beschissene Beziehungen: Es geht vorbei. Das verzieht sich, genau wie das Wetter. Die Sonne ist rund, der Planet ist rund, die Ringe, mit denen wir uns an Partner binden, sind rund, unsere Augen sind rund, durch die wir die Welt sehen …

Platten sind rund.

Absolut! Sie sind verdammt noch mal nicht eckig, stimmt’s? Es ist, wie George Harrison sagte: „All things must pass.“ Das Leben wird enden, okay. Wenn sich Leute heute schlecht fühlen, denke ich: Morgen wird es besser, es bleibt nicht ewig Scheiße, nichts bleibt ewig, das geht nicht, das kann es nicht, so funktioniert die Welt nicht. So sieht’s aus, Alter – das würde ich mir raten.

Ihr letztes Album hat sich abenteuerlich schlecht verkauft! Oasis haben einmal 12 Million Platten in neun Monaten abgesetzt …

Na und? Hör doch mit den Scheißzahlen und Statistiken auf. Wir spielen vor mehr Leuten als jemals zuvor! Wir verkaufen an einem Nachmittag in London noch immer 150.000 Eintrittkarten, und zwar so … (der Künstler schnippt mit den Fingern). Es geht um die Musik. Wenn es dir nicht gefällt, schön, dann kauf’s eben nicht.

So einfach ist das?

So einfach ist das. Wir haben 50-mal mehr Platten verkauft als The Velvet Underground, aber macht uns das besser als die? Einflussreicher? Plattenverkäufe? Ich denke nicht. Wir verkauften 50 Millionen beschissene Platten mehr als die Stooges, aber macht uns das einflussreicher als die Stooges? Nicht in 50 Millionen Jahren! Bleib mir weg mit Verkaufszahlen. Phil Collins hat fünfmal mehr Platten verkauft als ich. Macht ihn das auch nur annähernd so einflussreich wie mich? Nö.

Als Oasis ihren Durchbruch hatten, wurden sie als Rettung des Rock ’n’ Roll gefeiert. Heute gibt es neue Retter, Bands wie The Strokes, die White Stripes, Black Rebel Motorcycle Club …

Ich habe mir die White Stripes angehört und es klang Scheiße. Absolut Scheiße. Ich sage: „Zieht los und sucht euch einen Bassisten …“

Die Musik ist zu spartanisch?

Ich sage es ohne Ironie: „Holt euch einen Bassisten!“

Aber …

„Holt. Euch. Einen. Bassisten.“ So kompliziert ist das nicht. Aber der Black Rebel Motorcycle Club, entschuldige mal, das ist ja wohl der beste Bandname aller Zeiten, besser als Rolling Stones. Als ich sie das erste Mal hörte, stellten sich sofort die Haare auf meinen Armen auf und ich dachte: „Da ist jemand verdammt noch mal auf dem richtigen Weg.

In jüngster Zeit greifen Sie selbst häufiger zum Mikrofon. Machen Sie da nicht Ihrem Bruder Konkurrenz?

Ich singe nur die Stücke, die Liam nicht hinkriegt. „Force Of Nature“ ist besser, wenn ich es singe. Im Studio singe ich gerne. Wenn ich den ganzen verdammten Tag singe, fühle ich mich wie früher, als ich den ganzen verdammten Tag lang Kokain genommen habe. Deshalb verstehe ich nicht, warum Sänger immer so trübsinnig sind. Ich sage: „Warum tust du so traurig? Du kannst doch den ganzen Tag singen, du verdammter Schlappschwanz!“

Elektronische Einflüsse gibt es ja kaum bei Oasis – sind sie auch nicht zu erwarten?

Oh, ich werde eines Tages ein großartiges elektronisches Rock-’n’-Roll-Album aufnehmen, da gibt’s gar keine Zweifel. Er (nickt in Richtung eines Bildes von seinem Bruder, das an der Wand hängt) wird es nicht singen. Er mag keine elektronische Musik, er will damit nichts zu tun haben, ebenso wie der Rest der Band. Ich aber war in den Achtzigern in Manchester, als das ganze Acid-Ding losging. Ich mag Dance Music, ich muss das machen. Ich könnte elektronisch ganz einfach dieselben Gefühle evozieren wie mit der Gitarre, das wäre für mich ein Kinderspiel, weil ich Dance Music verstehe. Liam mag keinen Dance, weil er ihn nicht begreift.

Aber ideologische Gräben gibt es keine?

Viele Gitarristen fürchten sich vor elektronischer Musik und nennen sie deshalb abfällig „Tanzmusik“. Umgekehrt haben viele Elektroniker Angst vor Gitarren – und nennen das dann, was weiß ich, Gitarrenmusik. Es ist aber alles Rock ’n’ Roll, wenn man’s richtig macht. „I Feel Love“ von Donna Summer ist Rock ’n’ Roll. Rock-’n’-rolliger geht’s einfach nicht. Kraftwerk? Rock ’n’ Roll, weil sie die verdammten Regeln gebrochen haben.

Ist der ewige Bruderzwist beigelegt? Oder einfach nur privater geworden?

Manches dringt jetzt nicht mehr so an die Öffentlichkeit. Aber Liam hat sich auch beruhigt. Er hat mehr Verantwortung in der Band. Er kann nicht mehr einfach nur Liam der Besoffene sein …

der sich vor Interviews drückt …

Der Grund, warum er lange keine Interviews gegeben hat, war der, dass er nicht über meine verdammten Songs reden kann. Inzwischen sage ich zu ihm: „Du machst dieses oder jenes Interview!“ Und er sagt: „Hä, was, wieso, du Arsch?“ Und ich sage: „Weil ich nicht über deine eigenen beschissenen Songs sprechen will, deshalb.“

Hat er Spaß daran?

Früher hing er herum, in jeder Hand eine Whiskeyflasche, und machte … (der Künstler sackt in sich zusammen und ahmt mit debiler Miene seinen Bruder nach) Es war der einzige Grund, warum ich seinen Song „Little James“ auf das letzte Album genommen habe. Mochte ich nie, es ist ein verdammtes Scheißlied. Aber: Wenn er seinen ersten Song geschrieben hätte und ich hätte ihn abgelehnt, dann hätte Liam nie wieder etwas zu Papier gebracht. Ich sage, gib mir mehr, gib mir mehr!

Sie ermutigen ihn also?

Ja, weil es mir lieber ist, wenn mein Bruder Musik macht, statt den Rest seines Lebens als Alkoholiker zu vertändeln.

Wie britisch ist die Musik von Oasis?

Rock ist nie zu rockig. Amerikanische Bands können richtig heftig werden, aber wir hier kriegen einfach keinen echten Heavy Metal hin – zum Glück. Ein Song wie „Cigarettes & Alcohol“ kann nur von einem Engländer geschrieben werden. Würde ein Amerikaner versuchen, einen Song übers Saufen und Rauchen zu schreiben – das Ergebnis wäre schrecklich.

Sind Sie stolz, ein Engländer zu sein?

(sehr, sehr lange Pause) Das ist eine sehr, sehr komplizierte Frage. Ich bin stolz auf meine Arbeiterklassenherkunft. Nicht auf die königliche Familie oder solchen Scheiß. Ich bin stolz, demselben Kulturkreis zu entspringen wie die Beatles, die Rolling Stones oder Shakespeare – obwohl ich mich mit denen nicht vergleichen will. Ich bin also stolz, ein britischer Künstler zu sein. Eigentlich bin ich eher ein Europäer.

Tatsächlich?

Es ist unausweichlich, dass England auch der Währungsunion beitritt.

Britische Politiker und Medien tun doch alles, um dies zu verhindern.

Ein Scheißdreck ist das! Ein überhebliches Gewichse! Ein Affront gegen andere europäische Länder. Großbritannien will Europa erklären, wie es zu funktionieren hat – ohne die Währung zu akzeptieren. Ich meine: Was ist das für ein Scheiß?

Was müsste passieren?

Wir Europäer sollten uns zusammenraufen, politisch, ökonomisch, währungstechnisch. Kann sein, dass wir damit in den ersten zehn Jahren keinen Hit haben werden. Aber wie, verdammt noch mal, wollen wir dann in der Welt irgend etwas verändern? Wenn die Europäische Union komplett ist, dann haben wir eine gewichtigere Stimme als Amerika – ohne Großbritannien geht das nicht. Sobald Großbritannien komplett und ohne Einschränkungen der Union beitreten würde, dann könnten wir den Nahostkonflikt an einem Nachmittag lösen.

Wie das?

Wir Europäer haben uns die letzten 10.000 Jahre gegenseitig bekämpft. Wir sprechen unterschiedliche Sprachen, bezahlen mit unterschiedlichem Geld, pflegen unsere jeweiligen Geschichten. Aber wir respektieren unsere Grenzen und schlagen uns nicht mehr gegenseitig die Schädel ein. Das ist schon eine Lehre an sich für die Leute im Nahen Osten. Ich meine: Wir hassten uns noch vor 50 Jahren. Den Leuten ist das inzwischen egal. Deutsche, Engländer, Franzosen oder Niederländer haben gelernt, zusammenzuleben – auf verdammt kleinem Raum. Das ist eine Lehre für den Rest der ganzen Welt. Und sich England inmitten dieser Gemeinschaft engagieren würde, dann wäre die Welt ein besserer Ort. Es ist eine Schande, dass nicht alle Leute so denken.

Manche sagen, England sei der größte Flugzeugträger der USA …

Ganz genau! Und ich will dir sagen, warum das so ist: Es geht ums Geld. Wir produzieren mehr Waffen, Flugzeuge, U-Boote, Bomben als sonst wer auf der Welt. Würde England der Währungsunion beitreten, dann würde die EU – egal wo das Machtzentrum sitzt – sagen: So geht das nicht, ihr könnt nicht noch mehr Waffen bauen, hört auf! Großbritannien will das nicht, es geht um zu viel Geld – und deswegen scheren sich die Briten auch nicht wirklich um Europa.