„Das Labeling Jung gegen Alt ist zu kurz gegriffen“

Das Theater braucht seine Stärken nicht erst zu entdecken. Es hat sie: Gespräch mit Franz Wille, Jurymitglied und Redakteur bei „Theater Heute“

taz: Das Berliner Theatertreffen gleicht einem Ritual der Stadt. Für viele der Habitués war „Alibi“ der Choreografin Meg Stuart ein Schock: ein Stück über Terror, Fanatismus, Obsession, wie Menschen sich selbst zerstören. War das als ein Signal gemeint, ein Erschrecken, wie sich die Welt verändert hat und damit auch das Theatertreffen?

Wille: Es wäre falsch, einer Produktion den Signalwert für das ganze Treffen zu geben. Wir haben „Alibi“ ausgewählt, weil wir der Meinung waren, dass das eine Form von Theater ist, von Körpertheater, die Gewalt als Erfahrung des Körpers beeindruckend formuliert. Diese bemerkenswerte Theaterarbeit gehört auf dieses Treffen. Wir haben nicht gedacht, dass es ein Höhepunkt an Provokation ist, auch kein Selbstkommentar des Theatertreffens, sondern eins von zehn Stücken, das man sehen sollte.

Die neue Jury und ihre Auswahl wurde vielfach unter dem Paradigma „Generationswechsel“ angeschaut, schon weil viele 2002 Eingeladene wie René Pollesch, Stefan Pucher und Nicolas Stemann letztes Jahr auf der Gegenveranstaltung „Experimenta“ in Frankfurt zu sehen waren. Darauf hat man gewartet. Hat dieser Erwartungsdruck die Jury beschäftigt?

Ich finde das Labeling mit Jung gegen Alt, Neu gegen Bekannt zu kurz gegriffen. Vier der für dieses Jahr ausgewählten Inszenierungen sind von langjährigen Bekannten des Festivals. Marthaler, Castorf, auch Jossi Wieler und Luk Perceval waren schon eingeladen. Die anderen sechs haben wir nicht ausgesucht, weil sie jünger sind, sondern weil jeder mit seinem Ensemble Inszenierungen vorlegte, die einen Impuls geben für theatralische, zeitgenössische Ausdrucksformen, die nicht in Routine oder Konventionellem erstarrt sind.

Wenn man früher von einer Krise des Theaters sprach, war das Medium in seiner inhaltlichen Kompetenz gemeint. Heute scheint sie viel banaler eine Krise der Kommunen, die das Geld für das Theater sparen wollen. Sie haben aus zwei solchen Brennpunkten Inszenierungen eingeladen, drei aus Zürich, wo im Juni eine Volksabstimmung über die Subventionen stattfindet; zwei aus der Volksbühne Berlin. Frank Castorfs Vertrag läuft in drei Monaten aus und er weiß nicht, ob er angesichts der anstehenden Kürzungen hier weiter Theater machen kann. Könnte das Theatertreffen mehr genutzt werden, der Kulturpolitik Druck zu machen?

Der wirkungsvollste kulturpolitische Druck ist gutes Theater. Nur wenn die Aufführungen durchdringen, begreifen manche Leute, dass man das Theater bewahren muss und dass das auch sein Geld kostet.

In vielen der ausgewählten Inszenierungen gibt es gerade in der Bearbeitung klassischer Stoffe einen kalten sezierenden Blick. Pop, Postmoderne, Sampling, Konzeptkunst, das scheint dem alles schon vorausgegangen. Texte verlieren nicht nur ihren Autor, oft auch ihre Sprecher im Sinne von identifizierbaren Rollen. Sind da Gertrude Stein und Elfriede Jelinek die stärksten Vorbilder?

In Puchers „Drei Schwestern“ von Tschechow zum Beispiel sind sehr wohl identifizierbare Figuren zu sehen, die werden keineswegs beliebig. Zwischen ihnen wirken andere Differenzierungen; man bekommt sie von Pucher nicht im Illusionscharakter-Henkeltütchen geliefert. Aber Tschechow bleibt Tschechow, und Texte von Jelinek wären noch zwei Straßen weiter.

Sie haben auch ein Theater mit viel Sexappeal, starkem physischem Einsatz ausgesucht. Dieser Hunger nach Körper, wo kommt der her? Entdeckt da das Theater eine eigene Stärke gegenüber anderen Medien?

Das dürfen Sie mich nicht fragen, wo der Hunger herkommt, da will ich nicht drüber spekulieren. Aber zu beobachten ist das – und das Theater braucht seine Stärken nicht erst zu entdecken. Es hat sie.

Bei der Verleihung des Theaterpreises an Elfriede Jelinek war die Freude über ihr politisches Engagement sehr stark. Wie ist das Politische greifbar in den Inszenierungen?

In der Art, Menschen darzustellen, steckt in den meisten Inszenierungen eine hochpolitische Sicht, die sich aber nicht in thesenhaften Zuspitzungen aufdrängt. Die Art, auf Realität zu schauen, ist sehr politisch, ohne programmatisch zu sein. Das gilt für alle Stücke, aber für jedes ganz anders. Jede Inszenierung hat ihre eigenen ästhetischen Tentakel entwickelt, um das Politische von Gegenwart in sich aufzunehmen.

Das Theatertreffen ist eine Berliner Institution noch aus den Zeiten, als Kultur in Westberlin viel mehr repräsentieren musste, weil die Stadt sonst nicht viel hatte. Hat Sie diese Vorgeschichte belastet?

Nie. Diese Repräsentationsfunktion ist sowieso eine Geschichtslüge. Natürlich hat sich die Berliner (Kultur-)Politik immer mit dem Treffen geschmückt; das war aber nicht die Intention der Theaterleute. In einem Jubiläumsband zum 25. Treffen anno 1988 hat Rolf Michaelis, ein langjähriger Juror, geschrieben: Das Theatertreffen sei immer dann stark gewesen, wenn es „weniger darum ging, das gesicherte Alte als das noch gesuchte Neue zu finden. Es ging nie um eine Bestenliste, sondern um einen Fahrplan zukünftiger Stationen des Theaters und der Kunst. Kein Nest für Arrivierte.“ Daran versuchen wir in aller Bescheidenheit anzuknüpfen. Als Repräsentationsveranstaltung war das Theatertreffen immer ein Missverständnis. INTERVIEW: KBM