100 Jahre und kein bisschen staubig

■ Die Stadtbibliothek präsentiert sich in der Unteren Rathaushalle steril und „transparent“: Ist das die Zukunft der Bücher – ihre Abwesenheit? Sinnlich-erfahrbares aus den Kindertagen der Buchausleihe sucht man trotz der langen Bücherei-Tradition vergebens

Ein altes Gemäuer, die untere Rathaushalle. Hier präsentiert sich ab heute ein hundertjähriges Geburtstagskind: die Stadtbibliothek.

Aber wo ist die Ausstellung? Hinter der schweren Holztür sieht man zuerst sechs Computerterminals mit Flachbildschirm und Internetzugang. Wendet man sich der Halle zu, schießt es durch den Kopf: „Sind die noch nicht fertig mit dem Aufbauen?“ Ausstellungsdesigner Raymon Müller erklärt das Konzept: „Wir wollen die Leute erst mal in die Ausstellung reinholen. Wenn sie dann in der Halle sind, lesen sie auch die Texte, die wir gemacht haben.“ Die befinden sich auf ein paar Plexiglas-Stellwänden, die in der Halle verteilt stehen. „Wir wollten mit der Ausstellung Transparenz ausdrücken“, sagt Bibliothekschefin Barbara Lison. Das ist gelungen. Die Stellwände sind so transparent, dass ein Fotograf auf Motivsuche sie fast über den Haufen rennt. Über die hundertjährige Geschichte erfährt man wenig. Macher Müller geht vom Drei-Minuten-Ausstellungsbesucher aus, den er mit zu viel Text nicht abschrecken will. Aber geht man in die Halle überhaupt hinein, wenn das Entree eher ratlos als neugierig macht? Sollte das gar eine Zukunftsvision von Bibliotheken sein? Die weitgehende Abwesenheit von Büchern?

„Wir wollen die Bibliothek beim Betrachter geistig entstauben“, erklärt der Schöpfer. Dass es hier nicht muffig ist, stimmt, schon eher aseptisch. Müller scheint Ästhet zu sein: „Gerade in dieser alterwürdigen Halle hat es einen besonderen Reiz, mit dem Kontrast zu arbeiten.“ Aber wenn das heißt, keine alten Möbel von den Dachböden zu zaubern, keine alte Thekenbibliothek nachzustellen, nicht die alten Schilder zu zeigen, die die Besucher anweisen, Bücher nur mit gewaschenen Händen zu entleihen, und nicht die Bücherkisten nachzubauen, mit denen Leuchtturmwärter versorgt wurden, dann bleibt nicht viel .

Die greifbarsten Ausstellungsstücke sind 100 Bücher: Für jedes Lebensjahr der Bibliothek ein besonders heiß diskutiertes. 1912 war das die Biene Maja; 1929 Erich Maria Remarques „Im Wes-ten nichts Neues“, das schon wenige Jahre später von den Nazis verboten wurde. 1933 boomte „Die Feuerzangenbowle“. In den Fünfzigern war die Sehnsucht nach der Heile-Welt-Unterhaltung groß: „Ich denke oft an Piroschka“ 1955, auch verfilmt mit Lilo Pulver. Schade: Viele der Ausgaben sind neu, auch „Der Kampf um die Cheops-Pyramide“ von 1902 ist nicht in Fraktur vorhanden. Auch hier also kein Fitzelchen Staub.

Neben den Büchern kann man eine Lesezeichensammlung bewundern. Hinter Glas hängen Originale: selbstgebas-telte Kinder-Kunstwerke neben dem kommerziellen „Schneider-Taschenbuch“-Lesezeichen und der Werbung für gesunde Fleischbrühe. Auf die Wurstscheibe, die Bibliothekarinnen in einem zurückgegebenen Buch einst fanden, müssen die BesucherInnen allerdings genauso verzichten, wie auf die Liebesbriefe und private Fotos, die auf gleiche Weise in die Hände der Bibliotheksangestellten gerieten.Die Ausstellung erfüllt ihr Ziel, vorwärts gewandt zu sein. Bedauerlich nur, dass bei aller Transparenz die Sinnlichkeit alter, abgegriffener Bücher und die Geheimnisse des staubigen „Früher“ auf der Strecke bleiben.

Ulrike Bendrat

„100 Jahre Kultur zum Mitnehmen“, täglich 10-18 Uhr Abendveranstaltungen: „Internationale Kriminacht“, morgen um 21 Uhr und die „Nacht der 100 Texte“, Freitag, 21 Uhr.