Go West!

In Tallinn findet in einer Woche das größte Showereignis des Kontinents statt: der Grand Prix Eurovision. Estland will dann beweisen, dass es allen modernen Standortansprüchen genügt

von JAN FEDDERSEN

Das Viertel, das nicht mehr zur Altstadt, aber noch dem Zentrum von Tallinn zugehört, ist voll Menschen, die gelbe Plastiktüten tragen. Kinder halten Luftballons hoch, ebenfalls in Gelb gehalten. Rund um die Adresse Liivalaia 53 scheint es etwas umsonst zu geben, auch am Sonntag, bis abends um neun.

Eine Kapelle musiziert, ein Animateur in einem Festzelt preist Gartenpflanzen, die er in zwei Stunden versteigern will. Tulpenzwiebeln, Narzissen im Topf. Frühlingswaren Anfang April, die Temperaturen erreichen schon 21 Grad. Sein drängender Ton verspricht Einmaliges: So was gibt’s nie wieder.

Erst auf den zweiten Blick ist zu erkennen, dass ein Kaufhaus lockt, „Stockmann“, Dependance des bestsortierten Warenhauses in Helsinki. Hier in Tallinn, anderthalb Schnellbootstunden entfernt auf der anderen Seite des Finnischen Meerbusens gelegen, hat der Name Stockmann den Klang einer Verheißung. Alles ist zwar genauso teuer wie im Mutterland des Konzerns, in der Eurozone, und das bei den viel niedrigeren Gehältern in Estland. Irgendwie scheinen die Waren von „Stockmann“ Fingerzeigen gleich: Wer es sich leisten kann, darf sich angekommen fühlen – und zwar im Westen, was in Estland gern als „moderne Zeiten“ bezeichnet wird.

Es gibt also in der Lebensmittelabteilung dieses Warenhauses französische und italienische Butter, Mineralwasser aus Neuseeland und Kekse aus Brasilien, Toastbrot aus der Schweiz und Dosenmilch aus Deutschland. Die Preise sind hoch – weshalb denn doch eher die Lebensmittel heimischer Herkunft erworben werden. Doch der Würfelzucker aus Irland deutet vielleicht Weltläufigkeit an, und die allein zählt in diesem Land, das sich geschichtsvergessen wie kein anderes im Einflussbereich der früheren Sowjetunion so energisch den neuen Zeiten hingibt: Keine quälenden Debatten um Spitzelsysteme wie in Tschechien, kaum Vergangenheitsbewältigungen um realsozialistischen Ballast wie in Polen.

Dafür widmet man sich seit 1991 dem Aufbau dessen, was die Regierung unumwunden als funktionierenden Kapitalismus und einer wie der Staatspräsident Lennart Meri als „Herausforderung“ bezeichnet, die zu bewältigen Estland sich seit Jahrzehnten vorgenommen hat. Kaum hatte sich das Land für unabhängig erklärt, lud man auch schon finnisches und schwedisches Kapital ins Land, um dessen Investitionen für die Ankunft im Westen zu nutzen. Altlasten politischer Art waren kaum zu bewältigen, denn die Revolution war eine singende, die alte, meist russische Nomenklatura hatte Anfang der Neunzigerjahre längst keine Kraft mehr, gegen die Autonomiewünsche dieses baltischen Staates anzugehen.

Gut zehn Jahre nachdem dieser Prozess begonnen werden konnte, sieht Tallinn wie eine Metropole aus, wie sie unsowjetischer nicht sein könnte. Die Altstadt, die während der Hansezeit angelegt wurde, zählt zu den schönsten im nordeuropäischen Raum. Ein wenig erinnert Tallinn an Lübeck – allerdings ohne Marzipanschimmer. Eine Stadt, die nie wesentlich zerstört wurde und die selbst realsozialistische Hässlichkeiten ästhetisch überlebt hat – wenn man die Vorstädte außer Betracht lässt.

Das darf gesagt werden, denn Tallinn ist ja in Deutschland kaum bekannt. Und wer kennt schon Estland? „Estonia“ ist der gängige, englischsprachige Begriff, so wie die Fähre hieß, die 1994 mit mehreren hundert Passagieren in der eiskalten Ostsee versank. Tallinn? Ältere Deutsche kennen noch dessen Bezeichnung Reval – eine baltische Stadt mit beträchtlichem deutschem Kultureinfluss bis weit in die Vierzigerjahre.

Deutsch, wenngleich neben dem Englischen eine beliebte Fremdsprache an den Schulen, ist kein Zungenschlag der estnischen Kulturelite mehr. Aber man mag Deutschland, und selbst die Erinnerung an die Okkupation des Landes Anfang der Vierzigerjahre durch SS-Truppen ist verblasst.

Aber was bedeutet schon Geschichte? Grüblerische Stimmung bestenfalls, und der will man sich in Estland, so scheint es, nicht aussetzen. Ohne Blick zurück gesagt: Tallinn – das ist eine schöne Stadt. Hier und dort Baulücken abseits des intakten Altstadtviertels, überall Kräne, die freilich gerne in Kauf genommen werden, denn sie bedeuten Aufschwung. Eine Metropole, die ihre eigene Renovierung längst nicht beendet hat. Das Hafenufer zum Beispiel ist noch von Flanierwegen gesäumt, wie Hamburg oder New Orleans. Die Wasserseite ist immer noch die schmutzige Wirtschaftsseite.

Aus Tallinn, so oder so, kamen im Vorjahr die Sieger des Grand Prix Eurovision. Tanel Padar und Dave Benton. Sie machten es mit einem Dreiminutenvortrag möglich, dass Estland nun ein gutes Bild abgeben kann. Aber Menschen aus den wohlhabenden Ländern Europas befürchteten sehr, dieses kleine Land könnte keine Hotels haben. Wenn überhaupt, so die Gräuelpropaganda, dann jugendherbergsähnliche Unterkünfte, in denen es schon zum Frühstück Sauerkraut mit fettem Speck gibt, serviert von Frauen mit gulagverdächtigem Gleichmut.

Welch Hochmut. Erstens stand schon 1980 das Hotel Olümpia, das höchste Wohngebäude des Landes. Zwei Dutzend Stockwerke hoch, nahe dem „Stockmann“ und der Ausfallstraße zum Jachthafen der Olympischen Sommerspiele von 1980, deren Segelwettbewerbe von Moskau an Tallinn delegiert worden waren. Diese Herberge, Mitte der Neunzigerjahre gründlich für die Wünsche von Geschäftsreisenden renoviert, sie allein hätte genügt, um das Stirnrunzeln der Skeptiker darüber, ob dieser Event in diesem Land denn überhaupt gelingen könne, zu glätten: Es ist eben jene Sorte Hotel, die Popmusikstars (Jagger, Pavarotti, Pugatschowa, Madonna) gern belegen – denn es hat wahrlich genug Zimmer für alle Entouragen, Roadies und Groupies und Fans inklusive: modern, nüchtern und obendrein mit nettem Personal.

Die Esten, so hört man es beim Estnischen Fernsehen ETV, so berichtet es auch der Deutsche Botschafter Enver Schrömbgens, waren gekränkt, dass ihre Fähigkeit, diesen sechs Millionen Euro kostenden Event ausrichten zu können, überhaupt in Zweifel gezogen wurde. Das hat die Freude über die beiden singenden Männer, denen am Tag nach dem Triumph auf dem Rathausplatz in der Altstadt zwanzigtausend Menschen mit einem riesigen Besäufnis huldigten, etwas getrübt: Wir sind doch nicht das Armenhaus Europas!

Und hatte die Regierung nicht schon Minuten nach dem Schlussresultat den Delegationsleiter beim Grand Prix angerufen, um ihm zu versichern, der estnische Staatssäckel komme für alle nötigen Kosten auf? Juhan Paadam sagt heute, das sei sehr beruhigend gewesen, aber trotzdem ja keine Garantie, denn politische Verhältnisse könnten sich ändern und die Genfer Eurovisionszentrale sei im Übrigen pingeliger, als es Politiker in Tallinn zu sein belieben.

Natürlich, versichern Kollegen vom ETV, seien Lettland und Litauen nicht so energisch erfolgreich, um eine Veranstaltung wie die Eurovision auszurichten. Gewiss sei das nur ein Gefühl, aber man habe da so seine Erfahrungen. Die baltischen Nachbarn gelten in Estland als Schlawiner und, was die Organisationsfähigkeit anbetrifft, als eher unbegabt. Das sei nicht unfreundlich gemeint, aber evangelisches Arbeitsethos sei eben am ehesten in Estland verbreitet, nicht im katholischen Süden. Man selbst hält auf moderne Technik, hat das Land mit Internet und Handytechnik ausrüsten lassen, was nun ermöglicht, selbst die Gebühren der Parkuhren mit dem Mobiltelefon bezahlen zu können.

Und sie haben ja Recht, diese Esten, von denen der deutsche Chef vom Goethe-Institut sagt, sie seien nie unfreundlich, aber gewöhnungsbedürftig, weil sie selbst Partys ohne großen Abschiedsgruß verließen. Immer und immer wieder gefragt zu werden, ob man ein singendes Volk sei, weil doch der zivile Widerstand gegen das sowjetische System mit dem Heer von Chören angezettelt worden sei – das nerve sehr. Ja, sie singen, jeder zweite Este ist in einem Verein organisiert, der sich Musikalischem widmet. Aber deshalb trällern sie noch lange kein Lied, vor allem nicht unaufgefordert in der Öffentlichkeit. Ein gewöhnlicher Spaziergang durch das alte Tallinn belegt es nachdrücklich: Man grummelt sich eher schweigend durch den Alltag.

Gegrölt wird, das ist wahr, in der Nacht von Freitag auf Sonnabend, wenn die Jugendlichen die Clubs und Diskotheken der Stadt befallen und dort ihren Trinkneigungen nachgehen. Aber kann das als typisch estnisch genommen werden? Das unterscheidet sich eher gar nicht von ähnlichen Szenen in, sagen wir, Palermo, Erlangen, Hilversum, Tórshavn oder Nantes.

Apropos Clubs: In der Straße, die Rataskaevu heißt und eher eine Altstadtgasse ist, liegt eine Kneipe, die nicht bekannt werden soll, weil man fürchtet, finnische Sauf- und Pufftouristen könnten sie heimsuchen. Schließt man die Ohren, ist nicht mehr erkennbar, dass sie ein originär estnischer Ort ist. Das Interieur, freigelegte Altbaubalken, geölter Holzfußboden, eine Speisekarte mit italienisch inspirierten Kleinigkeiten, Menschen, die auf Coolness halten und eine gewisse textile Lässigkeit: Es könnte auch in Berlin-Mitte liegen.

Nur die Sprache – üks ist „eins“ und kaks „zwei“. Der Rest bietet all das, was wichtig ist, um sich in Europa nicht zu blamieren.

JAN FEDDERSEN, 44, taz.mag-Redakteur, hat Anfang April Estland besucht. Mehr über das Land in der TV-Reportage „Ich will ein Weltstar werden“ (Freitag, 25. Mai, 21.45 Uhr, ARD)