Wenn der Kopf zerspringt

„Man ist kein Mensch mehr“, beschreibt ein Patient seinen Zustand, wenn ihn wieder mal eine Migräne-Attacke überfällt. Doch das Vorurteil vom eingebildeten Kranken hält sich hartnäckig

von HELENE BUBROWSKI

„Migräne ist, wenn man keine Kopfschmerzen hat“, schreibt Erich Kästner in seinem Kinderbuch „Pünktchen und Anton“. Zugegeben, das war vor 70 Jahren, doch mit dem Vorurteil des und besonders der eingebildeten Kranken werden Betroffene auch heute noch belästigt, resümiert Nikolai Karheiding. Er ist Vorsitzender der MigräneLiga e. V., die mit regelmäßigen Veranstaltungen die Öffentlichkeit für ihr Anliegen sensibilisieren will. Am vergangenen Donnerstag fand in Hamburg das 17. Migränesymposium statt.

Was vom Gesunden bespöttelt wird, ist für den Kranken „der Gang durch die Hölle“. Acht Millionen Menschen, vom Kleinkind bis zum Greis, leiden in Deutschland unter der chronisch-neurotischen Krankheit, die entgegen landläufiger Vorstellung keine psychischen Ursachen hat. Bei einer Migräneattacke werden Entzündungsstoffe in der Hirnhaut aktiviert. Sie kann bis zu 72 Stunden andauern, wenn keine Sofortmedikation möglich ist. „Man ist dann kein Mensch mehr“, beschreibt einer der 350 Betroffenen, die sich vorgestern im Hotel Elysée versammelten. Der pochende bis hämmernde Schmerz kann sogar zu Erbrechen und Bewusstlosigkeit führen.

Wenigstens Anzahl und Heftigkeit der Anfälle ließen sich durch bewusste Lebensführung deutlich verringern, erklärt Dr. Jan Brandt, Chefarzt der Migräneklinik Königstein. „Die zehn goldenen Regeln“ verbieten unter anderem Stress, psychische Belastung und ungesunde Ernährung – hilfreich sind Ausdauersport und Entspannungsphasen. Eine vollständige Heilung allerdings ist trotz der Entwicklung neuer Medikamente zur Akut- und Präventivtherapie bisher nicht möglich, denn mit 60 bis 80 Prozent ist der Betroffene bereits im Erbgut vorbelastet.

Migräne gab es schon immer und überall – da müssten die Erkrankten doch eine einflussreiche politische Größe darstellen. Dass dem nicht so ist, zeigt schon die Tatsache, dass es bis zur Gründung der MigräneLiga e. V. 1993 keine Interessenvertretung gab. Lange Jahre Liga-Arbeit fangen nun an, Früchte zu tragen: So konnte der Verein dieses Jahr immerhin eine Gesetzesänderung in der Hochschulordnung bewirken, nach der die Beschäftigung mit Migräne verpflichtend für alle Medizinstudenten ist. Andere Reformen müssen noch erkämpft werden: Migräne soll den Status einer Behinderung bekommen, um die Erkrankten auf dem Arbeitsmarkt zu schützen; Hausärtze sollen sich verpflichtend weiterbilden, denn bisher gibt es für Patienten kaum qualifizierte Anlaufstellen.

Handlungsbedarf für eine Not, die im Elysée auch bildlich dargestellt wurde: zerschmetterte und durchbohrte Köpfe, eine Variation zu Munchs „Schrei“. Da klingt es wie Hohn, wenn Ireen Sheer unverdrossen trällert: „Heut‘ Abend hab ich Kopfweh – ich hab Migräne, weil ich mich sehne.“

Die MigräneLiga fördert die Gründung von Selbsthilfegruppen. In Hamburg können sich Betroffene an Heidy Thieme, Tel.: 71 37 08 71 wenden.