: Riesenspielzeug für Urlauber
Die Internationale Bauausstellung in der Lausitz setzt auf Industrietourismus. Die Förderbrücke F 60 ist nur eines von vielen Projekten für schwindelfreie Gäste der Region. Auch eine besucherfreundliche Schaubrennerei für Boskoopbrand ist geplant
von CHRISTEL BURGHOFF
Die Ruhe am Rande des Kraters wirkt ungewöhnlich. Aber die riesige Abraumförderbrücke ist tatsächlich außer Betrieb. Sie ist – genauer gesagt: sie war einmal ein Monstrum, das sich rund um die Uhr für den Braunkohletagebau durch die Landschaft fraß. Sie ist gewaltig, überspannt den Boden über einen halben Kilometer, 78 Meter ist sie hoch und weithin sichtbar, egal aus welcher Richtung man sich ihr nähert. Und während sie früher ohne Unterlass schauerlich quietschte – was in den umliegenden Dörfern sehr gut zu hören war –, so wird sie jetzt von Turmfalken umkreist, die im Gestänge nisten und ihr typisches Kikiki ausrufen. Und als die Turmfalken in der Abenddämmerung Ruhe geben, fangen Frösche an zu quaken. Die haben irgendwann in der letzten Zeit einen Tümpel besetzt, der sich aus Grundwasser gebildet hatte. It’s the end.
Die Fördereinrichtung, F 60 genannt, ist ein Überbleibsel aus großindustriellen Zeiten an der Lausitz ganz im Osten der neuen Bundesländer. Heute bezeichnet man diese Region mit dem Wortungetüm „Bergbaufolgelandschaft“. Eigentlich sollte die F 60 demontiert werden wie so ziemlich alle industriellen Überbleibsel aus den Zeiten des Tagebaus, aber dann kam die „Internationale Bauausstellung Fürst-Pückler-Land“, kurz IBA-See genannt, und machte sich für ihre Erhaltung stark. Eine „Landmarke“ nennt Rolf Kuhn, der Geschäftsführer der IBA, das Monstrum. Man mag sie für schrottreif halten, aber sie ist fast wie neu. Erst 1991 wurde sie fertig gestellt und leistete dann im Grunde nicht viel mehr als einen ausgedehnten Probelauf. Jetzt gehört sie der Gemeinde Lichterfeld-Schacksdorf und es ist ihre Funktion, eine Attraktion zu sein.
Seit Anfang Mai ist sie begehbar, man sollte sich auf eine gute Stunde Fußmarsch in luftiger Höhe bis zur Aussichtsplattform einstellen. Kanzler Schröder war schon da und sichtete vom so genannten Kanzlerblick aus die weite Tagebaulandschaft, an deren Horizont sich neue Formen der Energiegewinnung, nämlich Windräder abzeichnen. Demnächst will man das Erscheinungsbild der F 60 ästhetisch aufbessern: Eine Lichtinstallation soll ihre markanten Linien nachzeichnen, ein Kunstwerk für die Nacht. „Wie ein Bild von Mondrian wird es werden“, sagt Rolf Kuhn. Wenn der IBA-Chef solche Vergleiche wählt, dann merkt man ihm den früheren Dessauer Bauhausdirektor an.
Immerhin fanden sich an der F 60 im letzten Jahr schon 14.000 Besucher ein. Ohne Werbung, ohne die Chance, auf ihr herumzukraxeln. Aber diese Neugierde sagt nicht viel über künftige touristische Erfolge aus. Die Tagebauregion rund um Cottbus befindet sich im so genannten Strukturwandel. Kontinuierlich wandern Menschen in den Westen ab. Für die IBA, die zehn Jahre lang in diesen Wandel konstruktiv eingreifen will, ist dies eine Herausforderung. Vermutlich eine größere als seinerzeit im Saarland oder etwa im Ruhrgebiet, wo mit Hilfe der Internationalen Bauausstellung „Emscher Park“ sich Industrierelikte wie der Oberhausener Gasometer in Besucherhits verwandeln konnten. Dem Cottbuser Revier fehlt es dafür schlicht an Menschenmassen.
Dennoch: Recycling ist eine Perspektive und Perspektiven sind gut gegen die allgemeine Lethargie und Abwanderungstendenz. Im ehemaligen Braunkohlekraftwerk Plessa, ein weiteres IBA-Projekt, das nun für Besucher freigegeben wird, geht man einen anderen Weg als an der F 60. Einerseits wird eine Biodieselanlage zur weiteren Nachnutzung eingerichtet, andererseits sind unter anderem auch eine besucherfreundliche Schaubrauerei, eine Anlage zur Obstsaftherstellung und eine Destille für Obstbrände in Arbeit. „Wir produzieren dann beispielsweise Boskoopbrand von den Streuobstwiesen der Lausitz“, verkündet Hajo Schubert vom Kraftwerk.
Sich im Segment der Luxusbrände anzusiedeln, ist nur eine seiner vielen sprühenden Ideen. In den desolaten Kraftwerksgebäuden, in denen man gemeinhin von Abrissfantasien heimgesucht wird, bewegt sich der ehemalige Berliner Gewerkschaftssekretär wie in einem Eldorado, das unendliche Schätze birgt. Bis in die originale Farbgebung der Zwanzigerjahre hinein wird dieses alte Werk, das auch das älteste Braunkohlekraftwerk Europas ist, zurzeit saniert. Die beiden über 100 Meter hohen Ziegelstornsteine gelten in der Sprachregelung der IBA auch als „Landmarken“.
Welcher Bestimmung solche merkwürdigen Gebilde wie die „Turmtropfkörpergruppen“ von Lauchhammer nahe Plessa zugeführt werden, ist dagegen noch nicht ausgemacht. Es sind archaische, düstere Türme von ungewohnter Formgebung, die noch nirgendwo Nachahmer gefunden haben. Sie erscheinen irgendwie überdimensioniert wie viele andere industrielle Relikte, die nun, weitgehend von ihrem ehemaligen Umfeld isoliert, wie das verstreute, von Riesen verlassene Spielzeug wirken. Die Morbidität der großindustriellen Hinterlassenschaften hat einen gewissen Charme. Und sie ist auch eine Herausforderung für den touristischen Blick, der gemeinhin an Gefälligkeiten und perfekte Inszenierungen gewöhnt ist.
Industrielandschaften haben keinen guten Ruf. Man ruft nach Totalentsorgung und spricht abfällig von den „Mondlandschaften“, die der Braunkohlentagebau hinterlasse, oder pathetisch auch von Wunden an der Erde. Dennoch gibt es zahllose Begeisterte, die nicht bloß den historischen Baudenkmälern, sondern selbst noch kilometerlangen Kratern einen einmaligen Reiz abgewinnen. Und nicht ohne Grund. Besonders Naturschützer begrüßen die geradezu urzeitlichen Güte dieser Ödnis, in der sich neues Leben entwickelt, sich auch Tier- und Pflanzenarten wieder einfinden, die man als bedroht einstuft. Die Natur kommt schneller zurück, als man denkt. Auf so genannten Sukzessionsflächen entwickelt sich alles noch einmal von vorn. Selbst große Wildtiere wandern wieder ein. Dieser Zustand der Landschaft hat Seltenheitswert. Sie ist, so Kuhn, eine „Zwischenlandschaft“, die es in dieser Gestalt bald nicht mehr gibt. Derzeit umgibt sie noch das Flair einer verbotenen Zone, die man nur auf geführten Exkursionen betreten darf, um der grotesken Schönheit ihrer Canyons und Steppen nachzugehen.
Vollständig geöffnet werden die Tagebaugebiete erst dann, wenn sie wieder „normal“ ausschauen. Und das heißt: wenn Böschungen begradigt, Kippen befestigt, Böden verdichtet, Tagebaue geebnet und die großen Krater geflutet worden sind. Die Sanierung soll verhindern, dass der Boden unter den Füßen plötzlich nachgibt.
Bald wird sich der ehemalige Energiedistrikt der DDR zu einer gefälligen Landschaft mit einer Seenkette für den Freizeitspaß gewandelt haben. Bis es so weit ist, sind vor allem die rasanten Umbauarbeiten auf „Europas größter Landschaftsbaustelle“ ihre größte Attraktivität. Zahlreiche IBA-Projekte werden in diesem Jahr eröffnet – sie reichen von der F 60 bis zum Biennale- Rundweg im Künstlerort Pritzen. Jeden ersten Samstag im Monat sind nun auch Tagebau-Erkundungen in die zerklüftete Landschaft im Programm.
Info (0 3 57 53 )37 02 70; www.iba-see.de
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