Neuverschuldung für den Osten

Der DGB lässt eine Studie zur wirtschaftlichen Zukunft Ostdeutschlands diskutieren – mit einem teuren Ergebnis. Um den Osten vor dem Umkippen zu bewahren, brauche es eine neue massive Aufbauoffensive. Fast alle Wissenschaftler sind sich darin einig

Von NICK REIMER

Der Mann mit der „Kippen-These“ war auch da. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hatte mit seiner Einschätzung, der Osten stehe auf der Kippe die Republik und den Kanzler aufgeschreckt. Als am Donnerstag Gewerkschafter mit Politik- und Wirtschaftsexperten in Berlin „Wie weiter mit dem Aufbau Ost?“ fragten, durfte der Chefinteressenverwalter Ost also nicht fehlen. Nur wurde klar: „Kippen-Thierse“ irrt.

Denn der Osten der Republik steht nicht etwa auf der Kippe – er fällt längst. Zu diesem Ergebnis kommt eine vom DGB in Auftrag gegebene Studie, die federführend der Wirtschaftsprofessor Jan Priewe erarbeitete. Seit fünf Jahren wächst das ostdeutsche Bruttoinlandsprodukt langsamer als das westdeutsche – der Abstand steigt also wieder. Investitionsrückgang, Arbeitslosigkeit, Abwanderung – Priewe belegt seine These mit nüchternen Zahlen. Und mit einer Einschätzung: „Die Politik ist nicht bereit, sich den Realitäten im Osten wenigstens anzunähern – sie ignoriert Ostdeutschland schlichtweg.“

Priewe empfielt Instrumente, um gegen den Trend zu steuern. Das vom Solidarpakt für die Jahre 2011 bis 2019 eingeplante Geld in Höhe von 45 Milliarden Euro zur Verbesserung der Infrastruktur sollte zehn Jahre früher ausgegeben werden, bis 2010. „Wir brauchen die Infrastruktur jetzt und nicht erst 2020“, sagte Priewe. Zusätzlich seien deshalb jährlich 5 Milliarden Euro öffentlicher Investitionen notwendig. Priewes Rechnung: Die geplante „passive Sanierung“ Ostdeutschlands ist die teuerste. Abwanderung, Überalterung und damit einhergehende Perspektivlosigkeit seien auch ein Problem für Westdeutschland: „Über eine Million Arbeitsplätze im Westen leben vom Absatzmarkt Ost“.

Als „schmerzlichen Lernprozess“ bezeichnete Priewe die rot-grüne Wirtschaftsförderphilosophie: Mittelstandsförderung bringe kaum Beschäftigungseffekte, daher muss die Großindustrie stärker geködert werden. Priewe gab einen interessanten Vergleich über die Höhe der regionalen Wirtschaftsförderung – jährlich 10 Milliarden Mark. Westberlin allein bekam Ende der 80er-Jahre 9 Milliarden jährlich. Zudem darf der Osten einerseits kein Niedriglohngebiet werden. Andererseits sollten die ostdeutschen Lohnsteigerungen hinter der Ost-Produktivitätssteigerung zurückbleiben, damit ein Standortvorteil bleibt. Priewes letzter Rat: Der Bund muss Berlin helfen. „Theoretisch hat Berlin die besten Voraussetzungen, der impulsivste Wachstumspol Deutschlands zu werden“, meinte der Wirtschaftswissenschaftler von der Fachhochschule für Wirtschaft und Technik Berlin. „Wegen der krisenbedingten Haushaltspolitik fällt diese Lok aber aus.“

Dis Diskutanten teilten Priewes Vorschläge. Sie forderten mehr Investitionen für den Osten – etwa über ein Anheben der Investitionszulage auf 40 Prozent. Nur so könne der Abkopplung Ostdeutschlands begegnet werden, erklärte DGB-Bundesvorstand Heinz Putzhammer: „Daher fordert der DGB: Staatsverschuldung jetzt rauf“.

Am Vormittag diskutierten Fachleute, am Nachmittag die Politik – und das klang ganz anders. Egal ob bündnisgrüner Werner Schulz, SPD-Vorständler Christoph Matschie oder Jürgen Türk von der FDP – Petra Pau, stellvertretende PDS-Chefin, stellte „überwiegend Konsens“ auf dem Podium fest. Allenfalls Günter Nooke (CDU) und Wolfgang Thierse konnten mit neuen Vorschlägen aufwarten. Nooke will Unternehmensgründern vier Jahre lang die Steuererklärung ersparen, damit sie mehr Spielraum haben. Nach vier Jahren solle dann eine Gesamterklärung abgegeben werden. Und Thierse will mit öffentlichen Geldern „kurzfristig die Beschäftigungsquote auf 120 Prozent erhöhen“, damit der „bald erforderliche Nachwuchs“ nicht vorher abgewandert ist.

Zu dünn, wie die Konferenz befand. Der Berliner DGB-Chef Dieter Scholz: „Sie haben außer einem Weiter-so! keinerlei Antworten.“