Auf der Rückseite der Augenlider

Popliteratur sieht anders aus: Das Autorenduo Anke Stelling und Robin Dannenberg beschreibt gebrochene Figuren. „Nimm mich mit“ entfernt sich von einem Trend, in dem sich seelisches Leid in herrlicher Verrücktheit erschöpft

„Mein Alter war einer, der das Geld nach Hause brachte, damit er die warmen Titten und Mahlzeiten meiner Mutter kriegt.“ Erzählt Tamara, die Ältere, die ihren Heroinkonsum finanziert, indem sie in ihrem Wohnmobil für Geld mit Männern schläft. Sie erzählt es der schönen 24-jährigen Miri, die glücklich sein will und heroinsüchtig ist. Nachdem Tamara die Stadt verlassen hat, lernt Miri Bernd kennen. Bernd kommt aus Schwaben, hat den Lehrberuf an den Nagel gehängt und will sich in Leipzig als Buchhändler selbstständig machen. Miri, die ohne festen Wohnsitz ist, zieht zu ihm. Am Ende ergeht es Bernd wie dem Helden in Philippe Djians Romanhit der Achtziger, „Betty Blue“. Er hält inne und trinkt ein Bier, während der Schmerz über den Tod der Geliebten in eine neue Form, beinahe Hoffnung, übergeht.

Im Alltag, so wie ihn Anke Stelling und Robby Danneberg beschreiben, tun sich Abgründe auf. In ihrem Debüt „Gisela“ kommentierte der Protagonist Paul den Alkoholtod der Mutter eines Freundes: „Sie wird garantiert verbrannt, das ist noch das Billigste.“ Während der erste Roman von der Kälte seiner Atmosphäre lebt, gewährt Miris Innenschau in „Nimm mich mit“ nach und nach tiefere Einblicke in eine Verlorenheit, die zum Tod führt: „Für den, der mich ein Jahr lang glücklich macht, verspreche ich zu sterben.“

Und die Stärke der Darstellung von Bernd liegt gerade im Undramatischen, wenn er zwischen Jähzorn und Desillusion wechselt: „Sein Typ war Miriam auch nicht, sie war zu jung … und wahrscheinlich neurotisch. Er konnte genauso gut Moni zwei zum Essen einladen oder Sabine fragen, ob sie ihn heiraten wollte.“ Figuren, die gebrochen und vielschichtig zugleich wirken.

Das ist der ungewöhnlichen Zusammenarbeit dieses Autorenduos zu danken. Seit Dezember 1997 – Anke Stelling hatte ihr Studium am Literaturinstitut Leipzig eben begonnen –, arbeitet sie mit Robby Dannenberg, einem der ersten Absolventen des 1995 wieder eröffneten Instituts, zusammen. Aber wie funktioniert das gemeinsame Schreiben genau? Wenn man sie anruft, kann man von Anke Stelling am Telefon geduldige Auskunft erhalten: „Jeder hat seine Figuren und seine Perspektiven. Robby und ich experimentieren mit den Figuren, indem ich einen Mann schreibe und er eine Frau. Eine besondere Faszination beim Schreiben liegt ja darin, sich ein Leben vorzustellen, das nicht das eigene ist.“

Der aus auktorialer Perspektive gezeichnete Bernd ist Stellings Figur, Ich-Erzählerin Miri, die schon in „Gisela“ auftauchte, ist Robbys Part: „Wir haben uns schon gefragt, ob wir das überhaupt zugeben sollen, aber über unsere Biographien wäre es sowieso rausgekommen.“ Wobei noch anzufügen wäre, dass Stelling und Dannenberg nicht nur Figuren jenseits ihrer eigenen Geschlechterperspektive entwerfen, sondern – mit der wohnungslosen Miriam – auch solche jenseits des eigenen sozialen Umfelds und – mit dem Vierziger Bernd – jenseits der eigenen Generation.

Apropos eigene Generation. Als die jungen Literaten zur Jahrtausendwende neulich mal unter einen Popkanon subsumiert wurden, waren auch Stelling und Dannenberg mit „Gisela“ darunter. Innerhalb des Kanons hatte allerdings der von Zitaten aus Medien und Popkultur durchsetzte Alltag des jungen Mittelstands die Vorherrschaft gewonnen. Dicht gesteckte Bezüge zu Oasis und Brauner Bär zielten auf beschleunigte Identifikation der Leser. Schon die Figuren in „Gisela“ bewegen sich dagegen im gesellschaftlichen Abseits.

Auch in „Nimm mich mit“ bilden die Ikonen des Alltags lediglich Eckdaten im Text: ein Wartburg, eine Tatortfolge, eine kurze Vision vom Leben eines Logistikchefs bei Tchibo. Sie dienen dazu, den Text in der Realität zu verorten. Nur noch das bunte Cover sieht so aus, wie man sich die Popliteratur vorstellt. Während der Popkanon gerade verklingt, haben sich Stelling und Dannenberg weit entfernt von einem Trend, in dem seelisches Leid sich oft in einer herrlichen Verrücktheit erschöpfte, die mit ein paar Aspirin und Cocktails in angesagten Bars zu kurieren war.

„Nimm mich mit“ erinnert, außer an Djian, an die zeitlosen, dunklen Sozialdramen des 1946 geborenen Schriftstellers Ludwig Fels, an dessen Sprachgewalt und Fatalismus. Keine angenehm konsumierbare Identifikation. Stattdessen menschliche Abgründe in ihrer Schroffheit.

Zu den gelungenen Aspekten ist noch etwas anderes zu zählen: Das Buch relativiert endlich die Fragestellung nach weiblichem und männlichem Schreiben. Ein Autor und eine Autorin finden eine gemeinsame Sprache. Bei unterschiedlicher Tönung der Perspektiven verbindet sie dabei, was auch auf stilistischer Ebene an Fels’ Roman „Ein Unding der Liebe“ denken lässt: Gerade aus der Schlichtheit der Formulierungen treten einzelne Sätze hervor, die sich wie Gedichte lesen. Das ist auch ein gewagter Schritt weg von der rotzigen Sprache in „Gisela“. Miri beobachtet gegen Ende eine Katze: „Sie bemerkt nicht die Tropfen auf ihrem Fell. Sie liegt mit geschlossenen Augen auf dem Tisch. Vielleicht sieht sie ihre Kindheit auf der Rückseite ihrer Augenlider.“ JULIE MIESS

Anke Stelling, Robby Dannenberg: „Nimm mich mit“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 250 Seiten, 12 €