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cannes cannesFiktiv foltern, real lieben

French Psycho

Mit „Irma Vep“ gelang dem französischen Regisseur Olivier Assayas ein Film, der aus mindestens zwei Fiktionsstufen bestand: In der ersten ging es um chaotisch verlaufende Dreharbeiten, die zweite funktionierte als Film im Film, als Reminiszenz an Louis Feuillades frühen Vampirfilm „Les Vampires“, an dessen Remake der Regisseur der ersten Fiktionsstufe arbeitete. Als Mittlerin zwischen französischer Filmkunst und asiatischem Actionkino trat Maggie Cheung auf und machte sich ausgezeichnet im Catsuit über den Dächern von Paris.

Seit „Irma Vep“ sind sechs Jahre vergangen, und Assayas’ erneuter Versuch, einen Film aus unterschiedlichen Fiktionsstufen zu drehen, ist rettungslos gescheitert. Das Ergebnis, der Wettbewerbsfilm „Demonlover“, wurde im Théâtre Débussy ausgebuht und beschimpft: „This is shit!“ Das ist leider wahr. „Demonlover“, zunächst ein Thriller um Spionage in der globalisierten Unterhaltungsindustrie, will sich den Produkten angleichen, um die spioniert und intrigiert wird. Die Produkte sind japanische Animes expliziten Inhalts, Porno- und Gewaltseiten im Netz, besonders eine Seite namens „Hellfireclub“, die interaktives Foltern gestattet. Diane (Connie Nielsen), die Hauptfigur der ersten Ebene, gerät deshalb in die Folterkammern der zweiten Ebene. Dass dabei dem Plot alle Plausibiliät ausgetrieben wird, scheint Assayas nicht zu kümmern. Er freut sich, solange seine Figuren in Autos durch die nächtliche Stadt jagen und Hotelzimmer mit Blut beschmieren. Außerdem freut er sich, wenn er die Protagonistin in ein Catsuit steckt, um sie im nächsten Schritt in ein Ambiente zwischen SM-Studio und chilenischer Militärdiktatur zu versetzen.

Daraus werden Bilder, die nichts erklären vom Faszinosum ihrer eigenen Gewalttätigkeit. Wenn es so ist, wie „Demonlover“ behauptet – dass es ein unstillbares Bedürfnis nach solchen Bildern gibt, nach sadistischen Fantasien, nach digital abrufbaren Albträumen –, dann hat Assayas nicht die Spur einer Antwort, warum das so ist. Gegen dieses Elend vermag auch Chloe Sevigny nichts auszurichten, obwohl sie, als Wiedergängerin der Sekretärin aus „American Psycho“, wunderbar scheußliche Blusen trägt und am Ende selbst der Psycho ist.

Wie man auf eine ganz andere Art von Sex und Gewalt sprechen kann, zeigt der junge mexikanische Regisseur Carlos Reygadas mit „Japón“ („Japan“). Der Film wird mittlerweile als eine kleine Sensation gehandelt – schon weil sich das Auswahlgremium der Quinzaine des Réalisateurs gegen ihr eigenes Reglement wandte, nur Filme zu zeigen, die zuvor noch nicht auf einem anderen Festival zu sehen ware. „Japón“ lief – wenn auch in einer anderen Fassung – im Januar in Rotterdam. Wenn man mit Carlos Reygadas spricht, merkt man, dass er sich wohl fühlt in seiner Rolle als Wunderkind. Er ist überzeugt von seinen ästhetischen Konzepten, von der Reduzierung auf das Visuelle, von der Absage ans Erzähl- und Illusionskino. „Meine Produktionsfirma heißt NoDream Cinema, weil ich Dreamworks hasse!“

„Japón“ handelt von einem etwa 50 Jahre alten Mann (Alejandro Ferretis), der sich in einen entlegenen Canyon zurückzieht, um sich umzubringen. Warum, wird niemals erklärt. Er nimmt Quartier bei Ascen (Magdalena Flores), einer über 70 Jahre alten Frau, die er zu begehren beginnt. Er bittet sie, mit ihm zu schlafen. Gedreht hat Reygadas mit Laienschauspielern, Freunden seiner Familie und den Campesinos, die ein Dorf am Boden des Canyons bewohnen und sich manchmal vor laufender Kamera darüber austauschen, dass die Kamera läuft. Das Budget war gering, das Format Cinemascope, und die Kamera gefällt sich darin, in langsamen Bewegungen, Schwenks, 360-Grad-Drehungen und Luftaufnahmen einen eigenen Raum entstehen zu lassen. „Japón“ vertraut auf seine Bilder und auf seine Tonspur und macht dabei fast alles richtig. Die Sequenz, in der sich der lebensmüde Mann und die alte Frau nahe kommen, gehört zum Gewagtesten, was das Festival in seiner ersten Woche zeigte. CRISTINA NORD

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