Die USA sind nicht unentbehrlich

Der Rest der Welt ist durchaus in der Lage, seine Angelegenheiten selbst zu regeln, ohne die USA um Erlaubnis zu bitten

WASHINGTON taz ■ Viele Europäer betrachten George W. Bush und die Mitglieder seiner Regierung als ein Abbild von Kunst, als Charaktere aus einem von Bert Brechts weniger subtilen Dramen. Rachsüchtige Christen, die die USA als Erlösernation sehen, riechen keineswegs nach Weihrauch, sondern nach Öl – und ihre Heilige Schrift ist der Dollar. Aber angenommen, nicht Brecht, sondern Beckett wäre der Dramatiker, der sie beschreibt: Danach wären sie in Wirklichkeit umherirrende Seelen, getrennt vom gesellschaftlichen Raum und der historischen Zeit der übrigen Völker.

Europäische Kritiker US-amerikanischer Vorherrschaft wie etwa der frühere französische Außenminister Hubert Védrine sind genauso Opfer des absurderweise schmeichelhaften Bildes, das unsere außenpolitische Elite von sich selbst hat, wie es die Publizisten und Politiker in ihren Diensten sind. Die USA sind nicht die unentbehrliche Nation, und der Rest der Welt ist durchaus in der Lage, seine Angelegenheiten zu regeln, ohne die USA vorher um Genehmigung zu bitten (auf der UN-Weltversammlung in Madrid unter Beteiligung der EU und der Länder Zentral- und Mittelamerikas wurden die USA offen kritisiert). Europäische Anhänger des US-Modells haben sehr unterschiedliche Motive: Manche können es einfach nicht ertragen, von der Macht ausgeschlossen zu sein, andere – etwa europäische Kapitalisten, die den Wohlfahrtsstaat zurückdrängen möchten – sind berechnender.

Groteskerweise überschätzen Apologeten und Kritiker Bushs Beherrschung der Lage gleichermaßen. Die US-Operation in Afghanistan ist ein militärisches wie politisches Desaster, weil unsere Diplomatie sich auf die Vermeidung eines Atomkrieges zwischen Indien und Pakistan konzentriert. Unsere neuen Verbündeten, die nach universellen Menschenrechten streben, heißen China, Russland und Usbekistan – das sagt alles.

Die US-Opposition lebt

Unsere Schützlinge im Nahen Osten, Ägypten, Israel und Saudi-Arabien, gehorchen nicht, wie sie sollen. Der Versuch der USA, Hugo Chávez in Venezuela aus dem Amt zu jagen, ähnelte dem Triumph eines Inspektor Clouseau. Innenpolitisch lahmt die Wirtschaft, und Vorwürfe wegen Bestechung und Betrugs machen auch vor dem Weißen Haus nicht Halt. Die Diskussion um die Beurteilungsfehler der US-Führung im Vorfeld der Angriffe vom 11. September ist wieder aufgeflammt. Die Demokraten kämpfen wieder.

Das letzte Jahrhundert (man denke an den Vietnamkrieg) hat uns in der Tat eine imperiale Präsidentschaft eingebracht. Imperial regierende Präsidenten (und der außenpolitische Apparat, der auf ihr Kommando hört) sind jedoch nur so lange unangefochten, wie sie relativ billige Siege hervorbringen. Die Kosten für den Krieg gegen den Terror sind hoch, sein Nutzen erschließt sich den wenigsten Bürgern in den USA. Bushs Zuflucht zu inhaltsleerem Patriotismus und moralischem Infantilismus („Entweder Sie sind für uns oder gegen uns“) vermag Widerstand nicht länger zum Schweigen zu bringen.

Die US-amerikanische Opposition lebt. George W. Bush wird von protestantischen Fundamentalisten unterstützt. Die Mehrheit der US-amerikanischen Protestanten jedoch weilt im 21. und nicht im 16. Jahrhundert. Ihre Prämisse lautet: Ihre Nation sollte auf die Welt hören, anstatt sie zu kommandieren.

Die katholische Kirche beherzigt hartnäckig ihre Doktrin von der gesellschaftlichen Solidarität und pflegt Beziehungen zu den ärmeren, vorwiegend lateinamerikanischen Ländern. Der Großteil der jüdischen Gemeinde in den USA hat sich in unhinterfragter Solidarität mit Israel hinter die „gerechte Sache“ geschart und unterstützt des Präsidenten Kampagne gegen den „Terror“. Trotzdem denken viele US-amerikanische Juden anders.

Moralismus

Die US-Gewerkschaftsbewegung AFL-CIO (samt ihrem katholischen Vorsitzenden John Sweeney) war einer der Initiatoren der Anti-Globalisierungs-Proteste von Seattle und Genua. Gemeinsam mit den Kirchen, den Verbraucherverbänden, den Umweltschützern und den Frauengruppen streben die Gewerkschaften nach einer heimischen und globalen Wirtschaft, die sich von den sozialdarwinistischen Maximen eines George W. Bush unterscheidet. Der Moralismus in der US-amerikanischen Tradition hat sein Gutes: Man erinnere sich an das Erbe Franklin D. Roosevelts oder an die jüngsten Bemühungen Jimmy Carters um eine Annäherung zu Kuba.

Die US-Opposition ist zu Recht skeptisch, was die Europäer anbelangt. Zu viele Europäer betrachten die USA in eindimensionaler, karikierender Manier. Diejenigen europäischen Führer, die die Einseitigkeit der USA nicht kritisieren mögen, bestärken im Grunde Washingtons Illusionen von der eigenen Omnipotenz. Tony Blair mag Erinnerungen an Attlee wachrufen, Chirac an de Gaulle oder Schröder an Brandt. Wir in den USA wären in jeder Hinsicht entzückt über ein Europa, das sich selbst respektiert. NORMAN BIRNBAUM

Der Autor ist emeritierter Professor für Sozialwissenschaft an der Georgetown University in Washington, D. C.