Die Last der Kindergeneration

DAS SCHLAGLOCH von VIOLA ROGGENKAMP

Djerba war keineDrohung mehr. Der Überfall soll Angst machen. Und macht Angst.

„Thomas Mann sagte 1937, der Jude bilde mit ,seiner Leidenserfahrung, seiner geprüften Geistigkeit und ironischen Vernunft ein heimliches Korrektiv unserer Leidenschaften‘. In der Tat wurden die Juden in dieser Eigenschaft – als ständiges Ferment – am meisten benötigt und bestimmt am wenigsten geliebt. Diese geprüfte Geistigkeit, diese ironische Vernunft – sind sie jetzt überflüssig?“ (M. Reich-Ranicki)

Nachdenken. In einem Schlagloch sitzen und nachdenken. Ist dieses schon das Sommerloch, an dessen Abgrundsrand Politiker herumlungern, in aufgekratzter Erwartung der Bundestagswahl? Rechtzeitig erleben wir, wo es sich und wie es sich zuspitzen soll in Deutschland: Es wollen welche mit Antisemitismus, mit Judenhass auf 18 Prozent kommen. Das wird einfach sein. So viel Dumpfheit ist immer. Auch anderswo.

Um Deutschland herum haben europäische Länder nationalistisch gewählt. Aber Deutschland ist anders, ist etwas anderes. Die deutsche Gesellschaft hat etwas zu verlieren, was es so in keinem anderen europäischen Land gibt, nicht in Frankreich, nicht in Italien, nicht in Dänemark, nicht in Holland und schon gar nicht in Österreich.

In Deutschland ist viel gearbeitet worden. Vergangenheitsbewältigung. Das ist kein gutes Wort. Es ist ein misslungenes Wort. Das gehört dazu. Für das Eigentliche, für das Ungeheuerliche, worüber nachgedacht und gesprochen wurde und wird, gibt es überhaupt kein deutsches Wort. Auch das gehört dazu.

Es sind die Erben dieser Vergangenheit, nicht die Täter und Mitläufer, sondern ihre Töchter und Söhne, die nachgedacht und diskutiert und gearbeitet haben und es weiterhin tun, und nun, nach über fünfzig Jahren, brechen auch in den Nachbarländern die Keller auf. In ihnen stinkt es ebenfalls. Raubgut, Nazigold, Antisemitismus, Kollaboration. Es ist nicht dasselbe wie in Deutschland, und es hat sehr lange gebraucht, bis man sich, in der zum deutschen Verbrechen gebotenen Abgrenzung und Abstufung, daneben stellte.

Das alles passiert jetzt. Allmählich auch wird Platz geschaffen für eigene Leiderfahrung von Deutschen in dieser Zeit, und noch gar nicht berührt ist der ganz spezifische Opferstatus der Kinder von Tätern und Mitläufern, die inzwischen selbst Eltern und schon Großeltern geworden sind. Spreche ich als Jüdin mit Deutschen, nicht Juden, meiner Generation, wird dieser persönliche, in Bezug auf die Eltern existierende Opferstatus abgewehrt, als stünde ihnen das nicht zu – Opfer sind doch die Juden. Dahinter könnte Angst sein vor schmerzvoller Erschütterung über das Eigene. Auch wenn nach außen hin in deutschen Familien alles seine Ordnung zu haben schien, es stimmte diese Ordnung ja nicht, das Unheimliche saß mit am Tisch beim Essen mit Mutter, Vater, Tanten, Onkeln, Großeltern und den Kindern. Ich meine keine besonderen Nazifamilien, ich meine die deutsche nationalsozialistische Allgemeinheit, ob später DDR oder BRD.

Die verhärtete Enttäuschung dieser Eltern, nachdem Führer und arisches Vaterland hin waren, lastete auf den Kindern in den Jahrzehnten danach. Die Eltern bauten wieder auf, sie waren jung, sie unterwarfen sich in der DDR dem nächsten System, in der BRD ließen sie sich von den Amis dick füttern, ihr Hass galt den Linken und den Langhaarigen. Ihrer spezifischen Unfähigkeit zur Einfühlung in die Opfer und die Überlebenden waren auch ihre Kinder ausgesetzt.

Sich erinnern wirkt in die Zukunft, sich nicht erinnern leider auch. Wir erleben es nach der Wiedervereinigung. Zu dieser deutschen Elterngeneration gehört der Schriftsteller Martin Walser, der sich nicht erinnern will und heute wieder behauptet, die Katastrophe habe für Deutschland mit dem Vertrag von Versailles begonnen. – Doch dieser Vertrag war die Antwort auf die vorausgegangene kriegerische Gier Deutschlands.

Zu der Kindergeneration muss Jürgen Möllemann gerechnet werden. Der Freidemokrat ist seit fast 30 Jahren Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft. Sie hat 1.100 Mitglieder. Ihr gehört Jamal Karsli an, gebürtig aus Syrien und seit 1980 in Deutschland.

Der Anschlag auf die Synagoge von Djerba geschah am 4. April, nachdem deutsche Touristen das jüdische Gebiet betreten hatten. Das war keine Drohung mehr. Der mörderische Überfall von arabischen Terroristen auf Deutsche in einem jüdischen Gotteshaus soll Angst machen. Und macht Angst. Vier Wochen später sagt in einem Zeitungsinterview der ehemalige Grüne und jetzige FDP-Mann Jamal Karsli: „Vor dieser Macht haben die Menschen in Deutschland verständlicherweise Angst.“ Er meint mit „dieser Macht“ die Juden. Das Interview gab Karsli der rechten Jungen Freiheit. Das ist gar nicht so wichtig. Das hätte vermutlich auch Der Spiegel gedruckt.

Angriffe auf Synagogen, auf Jüdisches, werden in Europa nicht nur, aber zunehmend von Muslimen begangen, die unzufrieden sind mit ihren Lebensbedingungen. Sie rühren an erinnerte Bilder aus der Nazizeit. „Nieder mit dem faschistischen Deutschland, dem Diener des Zionismus.“ Das riefen tausende muslimischer Männer und Jungen vor der deutschen Botschaft in Teheran. Vorausgegangen war die Verurteilung iranischer Terroristen wegen Mordes an kurdischen Oppositionellen im so genannten Berliner Mykonos-Prozess vor fünf Jahren.

Mit Judenhass wollen welche auf 18 Prozent kommen. So viel Dumpfheit ist immer.Auch anderswo.

Die Parole zielt auf die deutsche Schuld an der Judenheit und befürwortet gleichzeitig den Judenhass. Das ist absurd und verrückt machend. Das ist das Gift der paralysierenden Lüge, der enteignenden Manipulation.

Kostbarer Besitz ist das Bewusstsein um das historische Erbe von Schuld und schuldhafter Verstrickung der Eltern- und Großelterngeneration, schwer erarbeitet und immer wieder zu bedenken und zu prüfen von den Nachgeborenen. Oder wünschen sich die Deutschen von heute etwa, dass ein Mann kommen möge, diesmal kein österreichischer Arier, sondern ein arabischer Semit, der ihnen nach Auschwitz sagt, ihre Eltern und Großeltern hätten Recht gehabt?

„Kaum jemand“, sagte der stellvertretende FDP-Vorsitzende Möllemann vor laufender Fernsehkamera, habe „den Antisemiten in Deutschland mehr Zulauf verschafft als Herr Scharon und in Deutschland ein Herr Friedman mit seiner intoleranten und gehässigen Art“. Tage zuvor schon drohte Hildegard Hamm-Brücher, die alte Dame der FDP, mit ihrem Parteiaustritt. Grünen-Parteichefin Claudia Roth stellt Strafantrag gegen Möllemann wegen Volksverhetzung. Zwei Frauen. Das hat einen Zusammenhang. Man kann gar nicht oft genug auf diesen Zusammenhang hinweisen: Judenhass und Frauenhass sind gleichermaßen faschistoid.

Hier in Deutschland ist etwas entstanden, zwischen Juden und Deutschen der nachgeborenen Generation: Danach, gegenüber dieser Elternlast – unterschiedlich im Erleiden der Nachgeborenen, wenn sie jüdisch oder nichtjüdisch deutsch – braucht man einander wechselseitig im Schlagschatten dieser Giganten, die Opfer waren oder Täter, um sich selbst zu finden. Das ist mühevoll, schmerzvoll und kostbar. VIOLA ROGGENKAMP