Schahîd

Dass dem arabischen Begriff Schahîd (pl. Schuhadâ‘), Märtyrer, im Koran ein zentraler Stellenwert zukomme, wie es die westliche Boulevard-Presse gerne suggeriert, ist schlicht falsch. Das Wort erscheint in dieser Bedeutung im Koran überhaupt nicht.

Dies heißt aber nicht, dass der Koran den Tod „auf dem Weg Gottes“, also im Kampf für den Glauben, nicht in höchstem Maße als verdienstvoll und als Schlüssel für das Paradies ansehen würde. Im Gegenteil. So heißt es in der 49. Sure (Verse 4–6): „Und denen, die um Gottes willen getötet werden, wird Er ihre Werke nicht fehlgehen lassen. Er wird sie rechtleiten, alles für sie in Ordnung bringen und sie ins Paradies eingehen lassen, das er ihnen zu erkennen gegeben hat.“

Der Begriff Schahîd für den Martyrer fand erst ein, zwei Jahrhunderte nach dem Tod Mohammeds Einzug in den Islam. Er stammt aus dem frühen orientalischen Christentum, wie die Vorstellungen vom Märtyrertod im Christentum und im Islam überhaupt sehr viele Parallelen aufweisen. Im Laufe der Zeit hat jedoch vor allem die sunnitisch-islamische Theologie den absichtlich gesuchten Märtyrertod immer kritischer gesehen und sogar bekämpft, da er dem im Islam immer in hohem Maße verpönten Selbstmord ähnlich war. Demzufolge wurde die Erfüllung friedlicher ethischer Pflichten wie zum Beispiel Fasten, Ehrlichkeit, Gelehrsamkeit ebenfalls als Handlungen „auf dem Wege Gottes“ und derjenige, der so handelte und dabei starb, ebenfalls als Schahîd angesehen, ja vielfach sogar höher bewertet.

In den nationalen Unabhängigkeitskriegen der arabischen Welt gegen Briten und Franzosen im vergangenen Jahrhundert löste sich der Begriff des Märtyrers völlig von seiner religiösen Konnotation. So heißt einer der zentralen Plätze in Beirut Sahat asch-Schuhadâ‘, „Platz der Märtyrer“ im Angedenken an libanesische – sowohl muslimische als auch christliche – Unabhängigkeitskämpfer, die gegen Frankreich ihr Leben gelassen hatten.

Gewiss, seit dem Erstarken militanter islamistischer Gruppen, haben sich diese auch wieder des Begriffs Schahîd bemächtigt und versucht, ihn religiös neu auszufüllen, doch sollten wir im Westen nicht in den fatalen Irrtum verfallen, alle nun gegen Israel gefallene Palästinenser inklusive der Selbstmordattentäter als Menschen anzusehen, die aus einer religiösen Verblendung heraus gehandelt hätten. Gerade auf Palästina passt diese Schablone überhaupt nicht. So sind die aus der PLO hevorgegangenen Al- Aksa-Brigaden und linke palästinensische Organisationen wie etwa die PFLP ausschließlich von säkularen nationalistischen Motiven geleitet.

Diejenigen, die in den letzten Wochen Dschenin und andere Städte in Palästina gegen eine übermächtige israelische Armee zu verteidigen suchten, taten dies in dem Bewusstsein, dass sie diesen Kampf wahrscheinlich nicht überleben werden, sie taten es aber auch in der subjektiven Gewissheit, dass sie einen gerechten Kampf gegen eine jahrzehntelange Unterdrückung und Demütigung führten. Bei den wenigsten spielte dabei eine religiöse Motivation eine Rolle. GERNOT ROTTER