Das Biotop und die Bürokratie

Die Einwohner, die bisher vom Wald lebten, fürchten nun um ihre Existenz

aus dem Igneada-GebietJÜRGEN GOTTSCHLICH

Vor uns breitet sich ein grüner Teppich aus. Am Horizont, vielleicht acht bis zehn Kilometer entfernt, blitzt das Meer in den vereinzelten Sonnenstrahlen auf, die trotz Frühlingsregen immer wieder durchbrechen. Davor schimmert eine urzeitliche, unberührte Landschaft. Neben vereinzelten hohen Baumkronen zieht sich auf vielleicht zwei, drei Metern Höhe ein scheinbar undurchdringliches Dickicht hin, unterbrochen nur von kleineren Seen und Bachläufen. Erst in der Ferne, schon fast am Meer, glitzert auch im Wald eine größere Wasserfläche. Diese Lagune, die stellenweise nur durch Dünen vom Meer getrennt ist, ist ein Vogelparadies – mehr als 100 Arten leben in dem Biotop.

Doch so urzeitlich und unberührt wie es scheint, ist die Landschaft nicht mehr. Bereits die Erhebung, von der mitten im Wald das Panorama zu genießen ist, weist jahrtausendealte Spuren menschlicher Besiedlung auf. Ein thrakisches Hügelgrab auf dem Plateau zeigt, dass hier schon vor mehr als 2.000 Jahren Menschen siedelten. Auch in jüngster Zeit haben Menschen die Natur beschädigt: Grabräuber haben erst auf der Suche nach Königsschmuck einen Teil des Hügels aufgerissen und Spuren der Verwüstung hinterlassen.

So etwas soll in Zukunft verhindert werden. Vom Hügel bis zum Meer wird das Gelände für Menschen gesperrt. Als Kernbereich des Naturschutzgebietes „Igneada“.

Mit einer weit ausholenden Armbewegung zeigt Burhanettin Ayanoglu, wo ungefähr die Grenzen des Gebietes verlaufen werden, das Menschen zukünftig nicht mehr betreten dürfen. Ayanoglu leitet das Projekt „Igneada Naturschutzgebiet“. Es hat für die Türkei Modellcharakter und wird mit drei weiteren Naturschutzprojekten, die für die wechselvolle Landschaft der Türkei besonders charakteristisch sind, von der Weltbank und der Unesco gefördert (siehe Kasten).

„Um dieses Gebiet herum“, erklärt Ayanoglu das Konzept des Nationalparks, „wird es zwei weitere Schutzzonen geben, die für Menschen nur begrenzt zugänglich sind. Dazu kommt dann ein großes Einzugsgebiet, in dem wir nur noch ökologische Landwirtschaft und naturangepassten Tourismus zulassen werden.“

Das Feuchtgebiet, ungefähr 250 Kilometer westlich von Istanbul, dort wo die Küste des Schwarzen Meeres an Bulgarien stößt, ist etwa 12.000 Hektar groß, und es ist das letzte intakte Gebiet dieser Art.

„Was Sie hier sehen“, erzählt Ayanoglu begeistert, ist der größte Auwald der Türkei.“ Zwei andere Feuchtgebiete an der Schwarzmeerküste sind in den letzten Jahrzehnten durch Trockenlegung zu landwirtschaftlichen Flächen oder durch zunehmende Zersiedelung zerstört worden. Das Gebiet um das Dorf Igneada direkt am Meer lag bis zum Ende des Kalten Krieges dagegen derart in einer Randlage, dass die Natur überlebte.

Ein Komitee aus Experten des Forst-, Umwelt-, und Kulturministeriums hat den Auwald von Igneada deshalb als eines von vier Gebieten für das GEF-II-Projekt der Weltbank ausgesucht. „GEF“ ist die Abkürzung für „Global Environment Facility“ und unterstützt den Erhalt biologischer Vielfalt und natürlicher Ressourcen in über 100 Ländern. Das war im Sommer 2000. Kurz darauf wurde Burhanettin Ayanoglu als Projektleiter ausgewählt.

Der gemütlich und umgänglich wirkende Mann Ende fünfzig hat sein bisheriges Berufsleben im Forstministerium verbracht. Naturschutzverbände, die die Einrichtung des Nationalparks unterstützen, haben seine Ernennung zunächst mit Schrecken zur Kenntnis genommen. Ayanoglu galt nicht gerade als Waldromantiker. Sein Job war es jahrzehntelang, den Wald zu Geld zu machen. Im Forstministerium arbeitete er im Bereich „Produktion“ und organisierte den Holzeinschlag. Obwohl er nun seit zwei Jahren für das Gegenteil sorgen soll, klingt in seiner Stimme noch immer ein Anflug von Bedauern, wenn er auf einen riesigen, umgestürzten Walnussbaum zeigt, der nun unangetastet in den kommenden Jahren verrotten wird, und dazu anmerkt: „Dafür hätte man sich einen guten Mittelklassewagen kaufen können.“

Mittlerweile sind die Naturschutzexperten, die mit dem Projekt zu tun haben, begeistert von ihrem einstigen Gegenspieler. „Er ist engagiert und kennt die Leute, die bisher vom Wald gelebt haben und nun um ihre Existenz fürchten“, meint Kenan Ok. Ok forscht an der Universität Istanbul und ist wissenschaftlicher Berater des Projekts.

Das ist wichtig. Denn im Gegensatz zu früher werden Naturschutzgebiete nicht von oben diktiert, wie das etwa bei militärischen Sperrgebieten noch geschieht. Heute, sagt Kenan Ok, solle die Bevölkerung einbezogen, ihre Unterstützung gewonnen und ihr eine neue wirtschaftliche Perspektive geboten werden. „Sonst“, sagt Kenan, „wird der Naturschutz vor Ort doch immer unterlaufen und von den lokalen Behörden sabotiert.“

Burhanettin Ayanoglu steht hinter seinem Konzept. Ein Teil der Projektgelder ist dafür vorgesehen, die Bewohner der Dörfer, die innerhalb des Schutzgebietes liegen, beim Aufbau einer ökologisch orientierten Land- und Waldwirtschaft zu unterstützen, oder jüngeren Leuten aus den Dörfern das Know-how für Ökotourismus beizubringen. „Wir reden mit den Leuten, wir schicken Berater in die Dörfer und zeigen den Leuten neue Perspektiven.“

Wie schwer das in Wirklichkeit ist, zeigt sich in Sisliowa. Sisliowa ist ein Walddorf, hier gibt es nicht eines der hässlichen Betonhäuser, durch die die Ansicht türkischer Städte und Dörfer sonst überall systematisch verunstaltet wird. Alle Häuser sind traditionell aus Fachwerk und Lehm erbaut, umgeben von Gärten und Obstbäumen. Der Weg nach Sisliowa führt kilometerweit über eine schlecht befestigte Schotterstraße, Fremde kommen hier so gut wie nie vorbei.

Früher war Ayanoglu fürs Abholzen zuständig. Jetzt will er den Auwald schützen

Die Menschen in Sisliowa leben vom Holz, das sie im Wald schlagen. Die Wälder entlang der Schwarzmeerküste nordwestlich von Istanbul dienen seit Jahrhunderten als Brennholzreservoirs für die nahe Metropole. In einem festgelegten Zyklus – ungefähr alle 20 Jahre – wurde in einem Gebiet Brennholz geschlagen.

Davon haben die Menschen gelebt und damit soll nun Schluss sein. Zwar nicht nur wegen des Naturschutzgebietes, sondern auch, weil der Brennholzbedarf Istanbuls dramatisch gesunken ist, seit selbst in den armen Stadtvierteln mit Erdgas geheizt wird; aber warum auch immer: „Wovon sollen wir jetzt leben?“, fragen die Menschen in Sisliowa.

Über Ökotourismus kann der 70 Jahre alte Muhtar Necmettin Arpaci nur verständnislos den Kopf schütteln. „Wer wird unsere armen Hütten schon anschauen wollen?“, fragt er. Dorfbewohner hätten das Forstministerium um Unterstützung gebeten, aber dort gebe es eine lange Liste mit Fällen wie Sisliowa. Außerdem will das Ministerium Holsteiner Kühe schicken, offenbar ein Projekt, das die EU sponsert. „Was sollen wir hier mit Holsteiner Kühen“, entrüstet sich Muhtar Necmettin Arpaci, „dafür gibt es doch gar keine Weiden.“ Andere Ideen des Ministeriums, Pilze zu sammeln oder als Imker Waldhonig zu gewinnen, sind den Bewohnern von Sisliowa ebenfalls fremd. „Die jungen Leute“, sagt Arpaci, „sind sowieso schon weggegangen. Unser Dorf stirbt aus.“

In anderen Orten sieht Projektleiter Ayanoglu dagegen die Bereitschaft, sich auf eine neue Zeit einzulassen. Wenn sie denn kommt. Denn für das geplante Naturschutzgebiet gibt es ein Hindernis. Und dies ist ausgerechnet in einer anderen Abteilung des Forstministeriums entstanden. Traditionell arbeitet das Ministerium mit zwei natürlichen Ressourcen: Holz und Wasser. Während man im Auwald nun den Holzeinschlag einstellt, haben Bürokraten einer anderen Abteilung bereits vor etlichen Jahren den Istanbuler Wasserwerken eine so genannte „Vorkonzession“ für den Bau eines Staudamms erteilt, der den Auwald vom größten Teil seiner Wasserzufuhr abschneiden würde. „Wenn der Damm gebaut wird, hat das Naturschutzgebiet keinen Sinn mehr“, stellt Burhanettin Ayanoglu fest.

Um die Rücknahme dieser Vorkonzession streiten sich nun innerhalb der Ministerialbürokratie die Beamten. Aufgrund der alten Vorkonzession hätten einige Firmen bereits investiert und drohten nun mit Schadensersatz. Kapital, auch ausländisches, sei bereits aquiriert worden. Der Auftrag, so erzählt Ayanoglu, soll gerüchteweise ein Volumen von 150 Millionen Dollar haben. Viel Geld, was bestimmten Leuten da entginge.

Einerseits wäre es natürlich peinlich, ein Projekt, das auch international gefördert wird, auf diese Weise ad absurdum zu führen, andererseits hat aber doch gerade die Weltbank oft genug Staudämme finanziert. Demnächst wird der Minister eine Entscheidung treffen müssen. „Schreiben Sie bald über Igneada“, sagt Projektleiter Ayanoglu. „Je bekannter unser Auwald ist, umso besser die Chancen, dass der Damm nicht gebaut wird“.