Die verschwundene Kassiererin

Wenn man sich schon am frühen Morgen sportlich betätigt, also davon träumt, joggen zu gehen und dabei ganz ahnungslos auf Kunst trifft oder: Wie ein hyper-alltäglicher Gebrauchsgegenstand zum meta-urbanen Irgendwas mutiert. Eine Erzählung

Der Künstler gerietin Panik und nahm eine Angestellte als Geisel mit

von KLARA WALLNER

Wie jeden Morgen jogge ich über den Friedhof. Gewöhnlich bin ich alleine dort, doch heute sehe ich von weitem eine Trauergemeinde. Sie kommt direkt auf mich zu und ich kann ihr nicht mehr ausweichen, außer ich drehte mich um und liefe zurück. Doch das kommt nicht in Frage. Ich verlangsame meinen Lauf und stolpere dabei über ein merkwürdig skurriles Ding. Blauweiß gemustert, zu einem zerknitterten Ball geformt. Die Trauergemeinde rückt immer näher und ich finde es besser, dieses merkwürdige Irgendwas aus dem Weg zu räumen. Ich gebe ihm einen Tritt und es fliegt quer über einige Gräber. Das leise Aufschlagen des Dings durchbricht die Stille und vermischt sich mit dem Geräusch des Windes, woraus sich ein merkwürdig mahnendes Wispern ergibt. Ich erstarre vor Schreck, ziehe die Kapuze tief ins Gesicht und laufe langsam an dem Trauerzug vorbei in Richtung Ausgang.

An der Ackerstraße/Ecke Elisabethkirchstraße stolpere ich erneut über ein blauweißes, knautschiges, irgendwie zusammengefriemeltes, rundliches Irgendwas. Es hat eine deutliche Ähnlichkeit mit dem Teil, das ich zuvor auf dem Friedhof aus dem Weg gekickt habe. Etwas ratlos trippele ich auf der Stelle, schaue das Ding dabei an und entschließe mich, es vor mir her zu schießen. Mit kleinen Stößen befördere ich das knautschige Etwas in Richtung Schinkels Elisabethkirche. Am Kinderspielplatz angekommen, gebe ich dem Ding einen gehörigen Kick. Auch dieses Teil erzeugt im Flug ein undefinierbares Wispern. Erschrocken halte ich den Atem an und kann erst wieder durchatmen als ich sehe, dass das Ding einsam und verlassen zwischen kleinen, sandigen Hügeln des Sandkastens liegt.

Beruhigt laufe ich weiter und biege links in die Invalidenstraße. Die Ampel steht auf Rot, und so kann ich, bevor ich die Brunnenstraße überquere, wie schon so oft, das seit langem leerstehende Art-deco-Haus an der Ecke Veteranenstraße bestaunen. Irgendetwas bewegt sich in dem großen Laden. Ich überquere die Straße, bleibe vor den verschmutzten Fenstern stehen und entdecke einen, in blauweißen Adidas-Klamotten gekleideten, zierlichen Menschen, der mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze und einer blau getönten Sonnenbrille sein Gesicht vermummt und somit sein Geschlecht nicht preisgibt (ich werde das Wesen im Folgenden „es“ nennen). Es formt aus blauweiß gemusterten Plastiktüten unförmige Bälle. Dabei sitzt es wie ein Yogi aufrecht im Schneidersitz und bestreicht wie in Trance eine blauweiße Tüte von innen mit irgendeiner glitschigen, milchigweißen Masse, die es mit einem Spatel aus einem riesigen blauen Eimer nimmt. Dann kräuselt es die Tüte mit der rechten Hand am Rand zusammen, schaltet mit der linken Hand einen neben ihm liegenden Fön an und hält ihn in die gekräuselte Tütenöffnung. Sobald die Tüte mit genügend Luft gefüllt ist, stellt es den Fön ab und legt ihn seelenruhig zur Seite. Danach nimmt es ein Stück blaues Klebeband von einem schneeweißen Tesa-Roller, wickelt den Klebestreifen um den zusammengekräuselten Rand und schaut sich die verkrumpelte, leicht aufgeblasene Tüte an. Erneut nimmt es den Spatel und holt damit langsam etwas von der glitschigen, milchigweißen Masse aus dem blauen Eimer und bestreicht damit die Tüte von außen. Auf der einen Seite bestreicht es die blauen und auf der andren Seite die weißen Stellen. Nach dieser Prozedur stellt es den Fön wieder an, trocknet die eingestrichenen Stellen kurz an, legt den Fön bedächtig zur Seite, presst dann vorsichtig entweder die weißen auf die blauen Stellen oder umgekehrt. Danach formt es aus der krumpeligen blauweißen Plastikmasse ein ballähnliches Gebilde und legt es behutsam zu den anderen, mindestens sechshundert Teilen.

Ich schaue auf meine Uhr und schätze, dass die Fertigung des Objektes etwa fünfzehn Minuten gedauert hat. Das heißt, wenn es sechshundert Objekte sind, hat das Wesen für die Herstellung neuntausend Minuten gebraucht. Ein Tag hat eintausendvierhundertvierzig Minuten. Was wiederum heißt, das Wesen bastelt seit circa sechs Tagen und sechs Stunden an diesem Meer von blauweißen Irgendwassen, schießt es mir durch den Kopf.

Langsam setze ich mich wieder in Bewegung und laufe die Veteranenstraße hinauf zum Zionskirchplatz direkt auf die Kirche zu und sehe im Gebüsch, das die Kirche säumt, schon wieder so ein blauweißes Irgendwas hervorblitzen. Ich laufe darauf zu und gebe dem Ding einen Tritt. Es fliegt geheimnisvoll wispernd direkt vor das Kirchenportal, wo es von einer um die Ecke biegenden schwarzen Dogge, die eine blauweiße Kugelkette um den Hals trägt, beschnuppert wird.

Die Dogge nimmt das flache, blauweiße Irgendwas ins Maul und läuft im Zeitlupentempo quer über den Zionskirchplatz. Mit einem gehörigen Abstand verfolge ich die schwarze, stolze, sich wie in Trance bewegende Hündin mit der leuchtenden, blauweißen Halskette und dem blauweißen Irgendwas im Maul. Sie biegt in die Fehrbellinerstraße ein und schleicht zur Anklamerstraße. Dort angekommen blickt sich die Dogge noch einmal um, danach geht sie weiter in Richtung Brunnenstraße. Sie biegt rechts ab und schleicht weiter bis zur Bernauer Straße. Mit hocherhobenem Haupt überquert sie diagonal die Kreuzung, läuft noch ein Stück weiter und bleibt vor der Filiale einer Lebensmittelkette stehen. Ich folge ihr langsam auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Die Zeit scheint stillzustehen. Ein lautloser Ausnahmezustand beherrscht die Szene. Nichts rührt sich. Kein Mensch ist zu sehen, kein Auto fährt vorbei und die Ampeln scheinen ausgefallen zu sein. Ich will die Straße überqueren, doch ich kann mich nicht bewegen. Wie angewurzelt stehe ich da, kann weder Beine noch Arme heben und sehe wie sich die Dogge in Luft auflöst und das flache blauweiße Irgendwas sich langsam mit Luft füllt und wispernd vor dem Laden hin und her schwebt …

… von irgendwo her höre ich ein undefinierbares Wispern. Ich wälze mich noch eine Weile herum und schlage irgendwann die Augen auf. Schließlich stehe ich auf, gehe in die Küche, stelle Teewasser auf den Gasherd und schalte ziemlich verdöst das Radio an. Die mir bekannte Moderatorenstimme holt mich, wie jeden Morgen, in den Tag und faselt irgendwas von bewaffneten Raubüberfällen in mehreren – das Radio stört – Zschzschfilialen in den letzten sechs Tagen, die am heutigen Morgen aufgeklärt werden konnten. Der Täter sei auf Grund der exakten Beschreibung (ca. 170 cm groß, schmal, in blauweißem Jogginganzug der Firma Adidas gekleidet) vor zwei Stunden in einem leerstehenden Haus im Norden von Berlin-Mitte dingfest gemacht worden. Es handele sich um einen jungen Künstler, der sich bei den Einbrüchen, die er als Aktionen bezeichnet, in sämtlichen Filialen ausschließlich der Plastiktragetaschen bediente, um, wie sich herausstellte, Kunstwerke daraus zu fertigen. Bei seiner letzten Aktion versuchten einige Kunden, die Angst davor hatten, ohne Mehrzwecktüten ihre Einkäufe nicht nach Hause transportieren zu können, dem Räuber den Weg zu verstellen. Der Künstler geriet in Panik und nahm eine Angestellte als Geisel mit. Von der großen, schwarzhaarigen Kassiererin, die eine auffallende blauweiße Kugelkette trägt, fehlt bis zur Stunde allerdings noch jede Spur …

Vorabdruck aus „City-lights“, hrsg. von Lichthaus plus neue Kunst, im Verlag Revolver, Archiv für aktuelle Kunst, Frankfurt am Main, Juni 2002