: Die Muschel in der Hand
Jewgeni Grischkowez ist der neue Star des russischen Theaters: Das Banale ist bei ihm hohe Kunst. Die Aufführung seines Stückes „Die Stadt“ in Stuttgart tut sich mit dem Unspektakulären schwer
von SABINE LEUCHT
„Er“ heißt in Stuttgart Ferdinand, wird gespielt von Ferdinand Dörfler und macht gerade eine Phase durch. Man könnte sie Midlifecrisis nennen oder schlicht Überdruss, sie ist ganz eindeutig ein Phänomen relativen Wohlstands und mit Wehleidigkeitspathos voll gesogen. Doch obwohl das Stück keinen anderen Gegenstand hat als ebendiesen, handelt es davon nicht wirklich: „Die Stadt“ von Jewgeni Grischkowez wird bewohnt von Momenten des Missverstehens. Ferdinand will raus aus der Stadt, aus seinem Job, weg von Frau und Kind und all dem, was er selbst einmal gewollt hat und nun – scheinbar „für immer“ – geworden ist. Will „nicht irgendwohin, sondern weg von irgendwo“. Und spricht darüber, die Worte behutsam suchend und die Menschen verfehlend: Mit Frau Sabine (Sabine Bräuning), Freund Jan (Jan Schreiber), Vater Peter (Peter Loth) und dem Publikum.
„Die Stadt“ muss Moskau sein, wo Grischkowez selbst nicht mehr wohnt, aber wohin jeder in Russland geht, falls er überhaupt weggeht von da, wo er vorher war: „Moskau ist für einen Russen ein Punkt, an dem es nicht so einfach weitergeht, es gibt keine Träume mehr“, meint er im Programmheft. Sonst hat das erste Stück, das der Autor-Regisseur-Darsteller für ein Schauspielerensemble geschrieben hat – sein erster auf mehrere Rollen verteilter Monolog – kaum russisches Lokalkolorit. Dafür liest es sich, als hätte einem einer in die Seele geblickt. Wie der kleine, bebrillte Mann schreibt, das ist ungeheuer zärtlich und genau gerade im Kleinsten, scheinbar Unbedeutenden. Stammelnd manchmal – und ins sprachlose Lamento schwappend wie bei Jon Fosse, aber mit ungleich mehr Humor.
Die deutschsprachige Erstaufführung im Theater im Depot des Stuttgarter Staatstheaters ist lustig – aber ähnlich lustig wie der Text ist sie nur, wo sie ihn für ihre Bedürfnisse umschreibt: Statt über Insekten und den Sommer, der mal wieder nicht stattgefunden hat, unterhalten sich Ferdinand und Jan hier über Plastikkorken und Abspültechniken. Wie sie sich so ernsthaft erregen, da grätscht der Abend unversehens in Richtung Woody Allen, dessen Stadtneurotiker als Pate wahrlich nicht übel passt. An anderen Stellen aber schießen Regisseur Alex Novak und Dramaturg Florian Vogel über das Ziel hinaus: Lässige Sprüche fallen fremdartig plump ins Textgewebe. Dazu bläst viel Wind aus Ventilatoren, der ein wenig Roadmovie und Abenteuer hineinweht in die sonst nur banale Lebenskrise. Aber das Banale, das ist doch hier gerade die hohe Kunst!
So möchte man Grischkowez vor den Erfindungen seiner Interpretatoren in Schutz nehmen. Ein seltsamer Impuls gerade bei einem, der ausdrücklich dazu einlädt, Namen, Szenen und Sätze zu verändern.
Jewgeni Grischkowez, 1967 in Sibirien geboren, macht seit fast 12 Jahren Theater. Seit 1998 hagelt es prestigeträchtige Auszeichnungen wie die „goldene Maske“ oder den „Antibooker Literaturpreis“. Mit seinem autobiografischen Monolog „Wie ich einen Hund gegessen habe“ wurde er vergangenen Herbst zur Hauptfigur des NET-Festivals des Neuen Europäischen Theaters in Moskau, wo Eintrittskarten für Grischkowez-Performances auf dem Schwarzmarkt bereits bis zu 100 Dollar kosten. Nach Stuttgart kam der „Erfinder der russischen Performance“ direkt von den Wiener Festwochen, wo er Ende Mai auch sein neuestes Stadt-Stück zeigen wird: „Planet“. In der Hauptrolle: Moskau. Im Juni schließlich ist die Moskauer Uraufführung der „Stadt“ zu Gast bei der Bonner Biennale.
Das einstige „Ausnahmephänomen Grischkowez“ gibt es nicht mehr: „Mittlerweile sprechen sogar Studenten in den Unis über meine Texte. Das ist ein seltsames Gefühl.“ Viel spekuliert wird auch hierzulande über das Label „Neuer Sentimentalist“. Das hat der unscheinbar und ungeheuer sympathisch wirkende Grischkowez sich selber umgehängt – ein wenig unbesonnen. Mit Wolgaromantik jedenfalls hat das nichts zu tun, sehr wohl aber mit einer großen Liebe zu den kleinen Dingen. „Die kleinen Muscheln“, sagt „sie“ in „Die Stadt“ – „Die kleinen Muscheln habe ich selbst am Meer gesammelt, vor sieben Jahren. Ich habe da gesessen und die mehr oder weniger ganzen ausgesucht. Aber als sie getrocknet waren, verloren sie ihre satten Farben und wurden hässlich. Einmal im Jahr wische ich sie ab. Ich kenne jede einzelne.“
Könnte doch auch „er“ sein Leben so polieren, seine Liebe in die Hand nehmen und alles wieder und wieder anschauen und des Nachpolierens für Wert befinden. Grischkowez jedenfalls wirkt wie einer, der das gerne könnte. Er spickt seinen wunderbaren Text mit lauter Hinweisen auf das, was seinem Protagonisten fehlt. Und nicht nur ihm. Versuche bloß keiner, daraus eine große Geschichte zu machen.
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