Wir brauchen mehr Steuern

Im EU-Vergleich sind die Staatsausgaben im wiedervereinigten Deutschland niedrig Unter Rot-Grün änderte sich an öffentlicher Armut bei privatem Reichtum nichts

Schleswig-Holstein macht den Anfang: eine strikte Haushaltssperre ab Pfingsten

Mit dem schönen Mai ist auch eine finstere Spardiskussion gekommen. Die immer in diesem Monat veröffentlichte Steuerschätzung lässt Schlimmes erwarten. Die Steuereinnahmen für 2002 und die dann folgenden Jahre werden im hohen zweistelligen Milliardenbereich niedriger als bisher erwartet ausfallen. Das trifft alle politischen Ebenen, besonders aber die Länder und Gemeinden. Also werden demnächst Schwimmbäder zur Schließung anstehen, Bildungsetats weiter gekürzt oder Sozialleistungen gestrichen werden. Denn mehr Kredite sind ja auch unmöglich wegen der EU-Grenze von 3 Prozent Neuverschuldung, die praktisch ausgereizt ist. Schleswig-Holstein hat zu Pfingsten schon den Anfang gemacht und sich nach nur vier regulären Monaten eine strikte Haushaltssperre verordnet.

Die eine oder der andere wird geringere öffentliche Haushalte nicht als ein beunruhigendes Problem wahrnehmen, sondern eher einen politischen Erfolg darin sehen. War denn Deutschland nicht ein Land mit besonders hohem Staatsanteil, ein Zustand, den die gegenwärtige Regierung bewusst ändern wollte? Wer so argumentiert, hat sich schlecht informiert oder ist von Politik und Medien auch in die Irre geführt worden.

In 1999, dem ersten vollen Jahr der rot-grünen Koalition, gingen in der Bundesrepublik 38 Prozent des Sozialprodukts durch die Gesamtheit der öffentlichen Hände einschließlich der Sozialversicherungen. Im Durchschnitt der Europäischen Union waren es dagegen 42 Prozent. Dazu ist Deutschland ein Staat, in dem viele teure staatlichen Leistungen völlig kostenlos sind, zum Beispiel die Autobahnen oder die Hochschulen. Und vor allem ist Deutschland ein Land, das wegen der Wiedervereinigung etwa 5 Prozent seines Sozialprodukts als Extratransfers für die neuen Länder braucht. Dies sollte also zu einem höheren als nur zu einem durchschnittlichen Staatsanteil führen. Jedenfalls dann, wenn wir weiter ein in Europa übliches Niveau an öffentlicher Versorgung haben wollen.

Von den großen europäischen Staaten liegt Großbritannien mit Deutschland knapp gleichauf, Italien und Frankreich um einiges darüber. Niedrigere Quoten haben vor allem die kleineren Mittelmeerländer, während in Skandinavien der Staatsanteil um die 50-Prozent-Marke liegt. Kein großer Unterschied, die paar Prozentpunkte Differenz? An dem gerade beendeten Arbeitskampf in der Metallindustrie ließ sich sehen, dass auch scheinbar kleine Anteile sich zu Summen addieren, die einen entscheidenden Unterschied ausmachen können. Und 1 Prozent des Sozialprodukts sind in der Bundesrepublik etwas über 20 Milliarden Euro. Diesem angeblich heftig überversorgten Gemeinwesen fehlen also gut 80 Milliarden Euro jährliche Steuereinnahmen.

So viel mehr brauchte es jedenfalls, um nur auf das übliche Niveau der EU an öffentlichen Leistungen zu kommen. Ganz zu schweigen von den Kosten unserer landesspezifischen Sonderbedingungen. Und auch ist noch gar nicht bedacht, ob nicht ein skandinavischer Weg mit höherem Staatsanteil, mit dadurch möglicher besserer Gesundheitspolitik, niedrigerer Arbeitslosigkeit und nicht zuletzt Pisa-Bestwerten dank gut ausgestatteten Schulen eine interessante Gestaltungsoption auch für Deutschland darstellen könnte. Schon merkwürdig, dass eine sozialdemokratisch geführte Regierung sich unter solchen Bedingungen ausgerechnet als Steuersenkungsprojekt positionieren musste.

Mit welcher Ausgangslage ist Rot-Grün noch gestartet? Zwei weitere deutsche Besonderheiten fallen im internationalen Vergleich sofort auf. Erstens haben wir mit fast 15 Prozent einen unüblich hohen Anteil der Sozialversicherungsbeiträge am Sozialprodukt. Da immer auch etliche allgemeine Umverteilungen über diese Budgets organisiert sind, werden in anderen europäischen Ländern solche Ausgaben stärker über Steuern auf das Einkommen oder den Verbrauch finanziert. Noch einmal drastisch verschärft wurde die seit langem bestehende Schieflage durch den Kardinalfehler der Regierung Kohl, mit den Kosten der Wiedervereinigung vor allem die Sozialversicherungen zu belasten.

Man kann – wie Frankreich – auch mit hohen Abgaben auf den Faktor Arbeit leben. Dann muss man aber staatliche Arbeitszeitpolitik betreiben. Die rot-grüne Politik hat leider über diesen Weg nicht einmal nachgedacht. Sie hat aber auch die Sozialversicherungsbeiträge nicht merkbar nach unten korrigieren können. Diese Untätigkeit hält den Bruttolohn übermäßig teuer und trägt dazu bei, den Abbau der Arbeitslosigkeit zu verhindern. Wieder merkwürdig, dass sich eine sozialdemokratisch geführte Regierung ausgerechnet in ihrem Kerngeschäft als so unwillig oder unfähig erweist.

Die andere deutsche Besonderheit betrifft die ungewöhnlich niedrigen Steuern auf Gewinn und Vermögen. Die Vermögen- und Erbschaftsteuern hatten 1999 in der EU einen durchschnittlichen Anteil von 2,0 Prozent am Sozialprodukt. In Deutschland umfassten diese Größe nur 0,9 Prozent. Und die Steuereinnahmen auf den Gewinn von Kapitalgesellschaften betrugen in diesem – international zuletzt ausgezählten – Jahr in der Europäischen Union im Schnitt 3,5 Prozent. In Deutschland waren es dagegen nur 1,8 Prozent vom Sozialprodukt. Zusammengenommen macht diese Gerechtigkeitslücke fehlender Einnahmen von Steuern auf Gewinn und Vermögen also über 50 Milliarden Euro aus. Zum Vergleich: Das ist mehr als das Doppelte von dem, was uns in Deutschland alle Hochschulen kosten.

Die Steuerschätzergehen von einem Einnahmendefizit aus, das nicht sein muss

Am merkwürdigsten, dass Rot-Grün diese vorgefundene Schieflage noch einmal heftig verschlimmerte. Man hat nicht nur nichts in Richtung einer höheren Besteuerung von Vermögen unternommen, was eigentlich Bestandteil beider Parteiprogramme war. Man hat durch die unselige Steuerreform bekanntlich auch die Einnahmen aus den Gewinnsteuern auf Jahre hinaus zu fast einer Bagatellsache verkommen lassen. Es war von Eichel, Metzger & Co. schon ein Meisterstück besonderer Art, gleich zwei Ziele aus der Koalitionsvereinbarung in ihr Gegenteil zu verkehren. Dort versprach man eine Steuerreform, die „sowohl zu sozialer Gerechtigkeit als auch zur Stabilisierung der Staatseinnahmen beiträgt“.

Das reale Ergebnis rot-grüner Steuerreformen: Reiche sind jetzt reicher, und der Staat ist dafür ärmer. Schon in den Sechzigerjahren hat der amerikanische Ökonom John K. Galbraith vor einer solchen Entwicklung gewarnt und gerade in Europa damit viel Widerhall gefunden. Nach dem neoliberalen Experiment der Achtziger- und Neunzigerjahre sollte jetzt gelten: Genug ist genug! Es ist wieder die Zeit gekommen, über einen den heutigen, gewachsenen Aufgaben angemessenen Staatsanteil nachzudenken. Es ist erneut nötig geworden, die Bekämpfung von zu großer Ungleichheit zum Thema einer gesellschaftlichen Debatte zu machen. Es ist an der Zeit, Steuererhöhungen zu fordern. GERD GRÖZINGER