24 Hoffnungen

Grand Prix Eurovision 2002, heute in der ARD. Informationen und Prognosen

von JAN FEDDERSEN und IVOR LYTTLE

1. Zypern: One mit „Gimme“. Man nehme fünf Jungs, die ähnlich fahle Schönheit wie das Gros der Figuren im „Marienhof“ mitbringen, und hoffe, dass sie für das mediterrane Eiland einen besseren als den fünften Platz erringen – ein solcher war bislang das passabelste Eurovisionsresultat Zyperns. Schade allein, dass die Boys so ein doofes Mitstampfliedchen vortragen müssen – und obendrein nicht mal richtig tanzen können: sehr öde, das.

2. Großbritannien: Jessica Garlick mit „Come Back“. Eine von zwei klassischen Schnulzen des Abends, in diesem Fall eine mit textlicher Schlichtheit („How will I survive / without you“). Für die Sängerin mit dem exotischen Namen („Knoblauck“!) sprechen ihre bestrickende Anmut und ihre schöne Stimme, für das Lied insgesamt, dass es von einem Amateur (Pilot!) ausgedacht worden ist. Das Vereinigte Königreich aber mal wieder Sieger? Niemals, denn mit Startplatz zwei hat noch kein Song ganz vorn landen können.

3. Österreich: Manuel Ortega mit „Say A Word“. Der Mann mit dem nachgerade habsburgisch-multikulturellen Namen erinnert äußerlich an einen Jedermann in der Maske des Dreamboy; sein Lied ist flott und nett, auch wenn es ein wenig, um nicht zu sagen: sehr an den Free-Oldie „All Right Now“ erinnert. Potenzieller Flop des Abends.

4. Griechenland: Michalis Rakintzis mit „S.A.G.A.P.O.“. Ein Mann von einem Äußeren, das in jede „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“-Episode hineinpasste – wenn er bereit wäre, den unbemittelten Greek Lover zu geben. Ein dritter Platz wie im Vorjahr für die Hellenen scheint undenkbar: Dafür singt er Stichwörter wie „Passport“ und „Password“ mit einem doch zu starken Akzent – und das immer wieder.

5. Spanien: Rosa mit „Europe’s Living A Celebration“. Eine Märchengeschichte: Ein junges Pummelchen aus Granada macht bei einer Art Show-Big-Brother („Operación Triunfo“) mit, schlägt mehrere hundert RivalInnen – und die ganze Stadt schaut ihrem monatelangen Triumphzug (bei dem sie immer schlanker und gelenkiger wurde) zu. Spanien hat momentan die meisten Berichterstatter in Estland akkreditiert: Die Sängerin will es ihnen mit einem Mitklatschschlager und dem gebührenden Sieg danken!

6. Kroatien: Vesna Pisarovic mit „Everything I Want“. Eine Dame mit dem ranschmeißerischsten Augenaufschlag der gesamten Konkurrenz. Dazu mehrere tausend Geigen als Soundunterstützung – und doch wird auch diesmal dieses kroatische Popdrama nicht vorn landen, aller Bühnenfreizügigkeit der Interpretin zum Trotz.

7. Russland: Premier Ministr mit „Northern Girl“. Eigentlich war die Tochter von Alla Pugatschowa und Philippe Kirkorow, beide die Showstars des Landes schlechthin, als russische Eurovisionssängerin auserkoren – aber die Moskauer Experten fanden, dass in Tallinn genug junge Mädchen mit Britney-Spears-Appeal singen. Also nominierte man diese Band, die zwischen Brest und Wladiwostok einen exzellenten Ruf hat. Favorisiert, weil unmittelbar eingängig. Textprobe: „Nothern Girl, Lady Ice / How can I melt you, baby?“

8. Estland: Sahléne mit „Runaway“. Am Abend vor der Vorauswahl fiel eine estnische Sängerin einer Erkältung zum Opfer – also fragte man in Schweden um Ersatz. Der Lohn: Diese junge Frau aus Söderhamn, die aussieht wie Ms Spears, hat scheint’s selbst ihre Zahnreihen nach dem Vorbild jenes Idols meißeln lassen. Die Musik? Mittelflott und unaufdringlich. Etwas für Liebhaber des Unauffälligen.

9. Mazedonien: Karolina mit „Od nas zavisi“. Das zweite Lied des Abends aus Exjugoslawien, soll heißen: eine Tragödie in drei Minuten. Sie singt davon, dass alles von ihm und ihr abhänge – aber dass es nicht gehe, wenn er immer nur andere Frauen im Kopf habe. Die Sängerin macht es ihm also schwer: Den Juroren vermutlich auch.

10. Israel: Sarit Chadad mit „Light A Candle“. In ihrer Heimat zählt sie zu den wichtigsten Popstars für Menschen unter dreißig. Ihr Lied bietet ästhetisch ein Niveau, das man aus Israel auch schon Mitte der Achtzigerjahre geboten bekam: ein Gebet für den Frieden, das durch das Entzünden einer Kerze unterstützt werden müsse – am besten von allen Menschen auf der Welt. Süßlich und vordergründig. Und mal sehen, ob sie von Europa auch wegen der Politik Ariel Scharons mit abgestraft wird.

11. Schweiz: Francine Jordi mit „Dans le jardin de mon âme“. So kennen wir die Schweiz: Menschen voll Sauberkeit, Akkuratesse im Äußeren und gepflegter Körpersprache. Also ein Land, arm an Leidenschaft. Mademoiselle Jordi, das sonstige Jahr über eine Volksmusiksängerin, ist eine würdige Botschafterin ihres Landes: Im Garten ihrer Seele wachsen, das werden wir hören, keine verführerischen Kräuter.

12. Schweden: Afro-dite mit „Never Let It Go“. Drei dunkelhäutige Sängerinnen, die kaum singen können, aber über die Bühne fegen, als sei es ein Aerobic-Event: Und klingen tut es, als ob Abba „Ich bin ein Mädchen aus Piräus“ sängen. Sie werden hoch gehandelt – und haben unsere Sympathien verdient, denn die Neonaziszene hat sich darüber mokiert, dass sie nicht wie Schwedinnen aussehen und deshalb verachtet gehören.

13. Finnland: Laura mit „Addicted To You“. Sie ist sehr groß gewachsen, zeigt gerne ihre langen Beine, ist blond, allerdings im Kurzhaarstil: Das ist nicht die günstigste Voraussetzung, um gewinnend zu wirken. Dass sie wie eine Oberschwester aussieht, wäre wahr, beleidigt aber alle Oberschwestern. Kurzum: Ms Laura hat ein munteres Liedchen zu singen. Und Mitleid mit ihrem Land: Das war nie für mehr gut als den sechsten Platz!

14. Dänemark: Malene mit „Tell Me Who You Are“. Kann man eine Sängerin gut finden, die aus einem Land geschickt wird, das Ausländer fies bis mobbig wie kein anderes in Europa behandelt? Soll man sie dafür bestrafen, obwohl sie doch offensichtlich mit Leidenschaft ein Mikro zu halten weiß? Darf man ein Lied verachten, das so nett und kurzweilig vorüberfließt, aber … Ach, Dänemark! Fru Mortensen hat Gnade verdient!

15. Bosnien-Herzegowina: Maja mit „Na jastuku za dvoje“. Ein Kampf um die rechte Tonhöhe und um Harmonien – den führt die Sängerin aus Sarajevo, seit sie ihren ersten Plattenvertrag erhielt. Offen ist, ob sie ihre cremeblaue Federboa tragen wird. Das Lied selbst ist ein Irgendwas zwischen Ballade und Mitbellschlager. Mit Hilfe der befreundeten Jurys aus Exjugoslawien wird ihr Land dennoch nicht absteigen müssen.

16. Belgien: Sergio & The Ladies mit „Sister“. Nach etlichen Vor- und Zwischenrunden ging er, der eigentlich Serge heißt, aber, weil Sergio feuriger klingt, sich eben so nannte, wie er sich nun nennt, aus der belgischen Vorauswahl siegreich hervor. Der Mittdreißiger, der wie eine unentschiedene Mixtur aus Joe Cocker und Ben Becker aussieht (plus Sonnenbrille) röhrt und raunt – und könnte die Überraschung des Abends werden.

17. Frankreich: Sandrine François mit „Il faut du temps“. Typisch frankophones Gewinsel um die Liebe, die noch Zeit braucht, die Gefühle, die zweifeln, und das Herz, das wankelmütig flattert. Ein Chanson wie ein Eric-Rohmer-Film. Patrick Bruel, ein Champion im französischen Popgeschäft, hat es für Madame François getextet. Sie sieht übrigens nicht aus wie Britney Spears: Das könnte ihr Punkte eintragen.

18. Deutschland: Corinna May mit „I Can’t Live Without Music“. Über die junge Frau aus Bremen mit bürgerlichem Namen Meyer ist alles gesagt. Sie ist blind und will gewinnen. Das teilt sie fast alles mit Ralph Siegel, dem Komponisten des Liedes. Es wäre der zweite Sieg für deutschen Pop beim Grand Prix: Und gäbe ihr weiter Hoffnung, ein Weltstar werden zu können.

19. Türkei: Buket Bengisu & Grup Safir mit „Leylaklar soldu kalbinde“. So mag man die Türkei: Klingt bei der Eurovision wie Weltmusik, wie Radio Multikulti – fiedelig, anders rhythmisch, freundlich, nett: Lilien, so behauptet Frau Bengisu, füllten ihr Herz. Mögen sie ihr am Ende zufliegen!

20. Malta: Ira Losco mit „7th Wonder“. Ein leise ins Ohr sich träufelndes Schlagerlein aus dem südlichen Mittelmeer – aber dass es ein siebtes Wunder ist, mag man bezweifeln. Die Sängerin, die ihre Fähigkeiten schon bei der heimischen Vorauswahl unter Beweis stellte, indem sie mehrere Dutzend Rivalen hinter sich ließ, hat einen leichten Silberblick: Das wirkt sehr, sehr apart.

21. Rumänien: Monica Anghel & Marcel Pavel mit „Tell Me Why“. Während der Vorentscheidung, so hatte es das rumänische Fernsehen eingerichtet, diskutierte eine Expertenjury alle Beiträge, ohne auf das Ergebnis Einfluss zu haben. Zu diesem Song sagten sie, es sei doch ein Wunder, dass dieses Lied ohne Schlägerei zwischen Sängerin und Sänger endete, denn sie sängen ja nicht zusammen, sondern sich gegenseitig nieder. Ms Anghel, eine Art Walküre, und Mr Pavel, der entfernt an Michel Foucault erinnert, verließen beleidigt das Studio. Sie gewannen dennoch. Das wiederum ist heute nicht zu erwarten: ein Duo als Duell.

22. Slowenien: Sestre mit „Samo ljubezen“. Attraktion des Abends: drei Männer, die sich als Stewardessen ausgeben – Tunten am Fuße der Karawanken. Das slowenische Spießerpublikum schäumte, das Parlament debattierte, die TV-Gewaltigen lavierten. Nach europaweiten Protesten der Homoszene dürfen diese wunderbaren Schwestern mit ihrem allerdings etwas dürftigen Lied („Nur Liebe“) im Namen ihres Landes auftreten.

23. Lettland: Maria N mit „I Wanna“. Die Sängerin erinnert an eine Mischung aus Teletubbies und Heike Makatsch, ihr Song an einen Beitrag der deutschen Gruppe Schiller, aber mit viel Sonne versetzt. Fröhlich, modern, angenehm, makellos. Etwas für laue Nächte. Aus Riga kommen schon erste Signale: Wir würden den Grand Prix Eurovision auch gerne ausrichten!

24. Litauen: Aivaras mit „Happy You“. Der junge Mann mit dem Michael-Steinbrecher-Look (der ja nun nicht gerade für ihn spricht) wollte erst nicht – denn er wurde nur Zweiter bei der Vorauswahl. Aber nachdem der Sieger wegen des berechtigten Vorwurfs des Plagiatorentums disqualifiziert wurde, erhielt er eben seine Chance. Die will er nun nutzen. Das Lied: eine Mischung aus dies & das. Passabel vor der Zeit zum Bierholen.

JAN FEDDERSEN, 44, taz.mag-Redakteur, prophezeite im Vorjahr den späteren Siegern aus Estland einen Rang im Abstiegsbereich. IVOR LYTTLE, 41, lebt in Bremen und ist seit 1995 Herausgeber der EuroSong News, des Zentralorgans der europäischen Grand-Prix-Fanclubs