Schöne Aussicht als Belohnung

Wer mit einem Klapperfahrrad an einem Tag eine Strecke von zweihundert Kilometern zurücklegt, gilt als übergeschnappt. Bei der Tour de Bad Schandau von Berlin zum Elbsandsteingebirge darf man sich dagegen als Marathonbiker fühlen

von HOLGER KLEMM

Pünktlich um acht knallt das Startsignal. Eine Woge aus Speichen und Radhelmen ergießt sich in die Straßen Königs Wusterhausens am südlichen Rand Berlins. Sechzig Zweiräder spulen über die Landstraße gen Süden. Kein normales Radlertreffen setzt sich da in Gang, sondern ein eher wahnwitziges Unternehmen: Am Abend wollen die Pedalritter mit ihren Klapperfahrrädern und Edelbikes in Bad Schandau an der tschechischen Grenze sein, zweihundert Kilometer an einem Tag.

Dass die Strecke bis zum Elbsandsteingebirge zu schaffen ist, beweisen sich die Teilnehmer dieser Tour alljährlich immer wieder neu. Und längst ist aus der Kneipenwette, die vor zehn Jahren die Tour de Schandau ins Rollen brachte, ein organisierter Pfingstausflug mit einheitlichen T-Shirts, Verpflegung und Begleitautos geworden. Urkunden gibt es keine, dafür das Gefühl, ein Stück Wahnsinn bewältigt zu haben.

Die ersten Kilometer treten sich locker. Angenehm schwingen sich die traumhaften brandenburgischen Alleen durchs Land, man plaudert und lässt Wald und Wiesen an sich vorüberplätschern. Jeder wählt das eigene Tempo entlang der ruhig befahrenen B 179. Der Streckenplan weist bei Kilometer 19 den Ortsteil Hammer aus. Die Geräusche des Tretlagers werden immer lauter, dieses gleichförmige Ticken, das zeigt, dass die Schaltung nicht richtig eingestellt ist. Spätestens jetzt macht sich bemerkbar, dass das schwarz-türkise Herrenrad Marke Herkules mit Naben-Dreigangschaltung und einem Ausklappkörbchen am Gepäckträger nicht unbedingt für einen Bikermarathon taugt.

Bei Kilometer 24,5 liegt Märkisch Buchholz, und die gewaltige Länge der Strecke flößt langsam Respekt ein. Laubwald, Mischwald und Nadelwald wechseln sich ab. Kein Lüftchen entlockt der Dahme eine Welle, stattdessen Schweißbäche auf der eigenen Haut. Ein Wehr, eine neue Brücke, die glatte Straße fährt sich gut. Gleich hinter der Brücke beginnt die Straße in Richtung Köthen, vorbei an hinter Jägerzäunen verschanzten Bungalows. Das Hügelige bricht durch und ist nur zu ertragen, wenn es bergab geht. Der Fahrtwind pfeift durchs Haar. Wenn nicht die Käfer wären, die einem immer wieder gegen Stirn und Wangen knallen, man könnte es glatt genießen.

Imbissbuden und Ferienbungalows allerorten. Ein Radwegweiser verspricht die Ankunft in Lübben nach weiteren 23,7 Kilometern. Die Strecke wird zur unerbittlichen Augenweide: eine Koppel für Pferde, ein glitzernder Bach, umsäumt von Weiden. Die Muskeln verhärten sich merklich. Die im Rücken sind überanstrengt. Beim Absteigen oder Hinsetzen werden die Beine steif und unbeweglich wie Beton. Auch das Fehlen von Fahrrad-Handschuhen rächt sich gnadenlos.

Ankunft in Schlepzig. Stroh und Holz trocknen, fein geschichtet, in der Sonne. Den Brauhaus-Brunch gibt’s für zehn Euro, die Gaststätten erdrücken sich hier gegenseitig. Kähne, Gondeln, Kanus schaukeln, bis fast zum Sinken überladen, durch die Wellen. Die Buswartehäuschen strahlen im Fachwerkstil. Und alle 50 Meter Tische: frischer Spargel, frische Eier, frischer Honig und Kartoffeln.

Der Verkehr verdichtet sich. Trotz Begleitfahrzeugen mit Transparenten: „Bitte vorsichtig überholen“, hupen und drücken die Brandenburger, was das Zeug hält. Vor dem Ortseingang Lübben endlich ein offizieller Hinweis: „Vorsicht, Radfahrer“. Ansonsten kündigt sich die Stadt nicht an. Unscheinbar taucht sie zwischen den Bäumen auf und guillotiniert den Gleichklang der Fahrt. Das Kopfsteinpflaster drückt sich durch den Sattel. Vorbei am Schloss und über die ordentlich eingefasste Spree führt der Weg weiter an gelb-violett bepflanzten Blumenkübeln entlang, die die Straße säumen. „Ordnung ist der Humor der Deutschen“, sagte Karl Krauss einst. Lübbenau hat viel Humor.

Orte reihen sich aneinander. Was hängen bleibt im Kopf, sind vor allem Hässlichkeiten. Zum Beispiel Wormlage. Dort wirken die Häuser wie Festungen. Nur wer Gardinen, Stores, Übergardinen, Rollläden und Jalousien vor seine Fenster hängt, scheint ein ordentlicher Dorfbewohner zu sein. Selbst der Friedhof sieht so verschlossen aus, dass man hier nicht gern liegen möchte.

Die Naturpanoramen sind da liebenswerter. Dickicht und Wildnis machen sich breit. Doch die Berge werden steiler und steiler. Fluchen. Zähnezusammenbeißen. Treten, solange es noch geht. Nach einem langen Berg taucht Stolpen auf. Der Ort steht nicht auf dem Streckenplan. Umkehren? Nein. Weiter. Fragen nach dem Weg. Eine alte Frau beginnt, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Doch zum Zuhören bleibt keine Zeit.

Die Anstrengung auf den letzten vierzig Kilometern steigt noch einmal. Buntes Flimmern in den Augen. Erschöpfungszustände. Stechen im Kopf. Zwischendurch öffnet sich der Horizont über jenem Höhenzug, wo um zehn vor halb zehn die Ziellinie erreicht ist. Was bleibt, sind rote Arme, verbrannte Gesichter und Salzkrusten auf der Haut. Müde Augen blicken über das Elbsandsteingebirge im Abendlicht. Ob sich der Wahnsinn gelohnt hat, wird sich zeigen. Spätestens am nächsten Tag.

Informationen und detaillierter Streckenplan bei www.my-caos.de