Alte Männer bringen‘s nicht

Es muss in Zukunft wohl doch auch ohne Musik gehen: Der alte Schlagerhase Ralph Siegel und seine gutwillige Chanteuse Corinna May kamen beim Grand Prix nur auf schlappe 17 Punkte. Gefeiert wurde lettischer Latino-Pop samt Strip-Einlage

Oldies, die nicht mehr zum Pop fähig sind: Alles zu sinfonisch und bombastisch

aus Tallin JAN FEDDERSEN

Wird er jetzt begreifen, dass er den richtigen Ton nicht mehr trifft? Wird er sich Zeit nehmen, um zu verstehen: Europa, dessen Grand-Prix-Teile zumindest, hat kein Ohr mehr für die Musik, die er in den Wettbewerb schickt. Wie ein Großvater, dessen Enkelkinder seine alten Lieder aus guten alten Tagen nicht mehr hören wollen, ist er abgestraft worden.

Denn das sind die Fakten: Ralph Siegels Komposition „I Can’t Live Without Music“ und deren Interpretin Corinna May haben beim Grand Prix Eurovision Samstagabend in Tallinn nur 17 Punkte erhalten – das reichte für den 21. Platz. Noch ärger: Das ist der zweitschlechteste Platz, den Deutschland je erreicht hat, nur 1995 war es noch weiter abgestürzt, nämlich auf den 23. Platz. Für Siegel, der mit Songs wie „Ein bisschen Frieden“ und „Theater“ als Grand-Prix-Komponist Ruhm erntete und Geld verdiente, war es sogar das verheerendste Resultat: Nie hat man ihm so deutlich eine gewisse Gestrigkeit – ausgedrückt in einem Punkteergebnis – attestiert. Zumindest Corinna May muss diesen Verlauf geahnt haben, denn sie unkte schon am Nachmittag, sie bedrückten die guten Wettprognosen in London, Stockholm und Dublin schon sehr: „Vielleicht waren die Erwartungen zu hoch.“

Aber das will einer wie Siegel, 58 Jahre und insofern sowieso ein alter Hase, natürlich nicht hören: Dass die Wetter auf Oldies immer setzen, dass die Wetter die Lieder oft hörten und eben auf seine Reputation als Erfinder von, beispielsweise, „Dschinghis Khan“ vertrauten. Die europäischen Jurys, also die Abstimmung der gewöhnlichen TV-Zuschauer und Radio-so-nebenbei-Hörer, ignorierten ihn – und das beim Televoting. Da sind keine Ausreden möglich, denn der (beim Grand Prix überwiegend praktizierte) TED ist ja unbestechlich: Da zählt nur die Kunst, auf der Bühne eine angenehme Ausstrahlung zu haben, ohne zu bieder zu wirken, da ist nur wichtig, ob ein Lied im Ohr hängen bleibt.

Die Zuschauermillionen vertrauten also ganz ihren spontanen Launen und erkannten, wenn überhaupt, in Siegels Angebot nur ein konzeptionell überfrachtetes Lied, das einerseits etwas Balladig-Musicalhaftes hatte, andererseits mit eher uninspirierten Musicalharmonien versetzt – und schließlich von einer Interpretin fast ohne Personality auf einen spektakulär langweiligen Dancefloorbeat gesetzt wurde: Man sah den guten Willen und wandte sich unaufgeregteren Angeboten an diesem Abend zu.

Der Lettin Marija Naumova vor allem, eine Frau, die gerne Gershwin interpretiert und in ihrer Heimat außerdem als Performerin in Clubs und Lounges bekannt ist. Sie sang „I Wanna“. Also: Ich will. Ein latinohafter Song über einen Menschen, den sie will und in ein Blumenmeer zu führen gedenkt. Kombiniert war dies mit einer Show, an deren Anfang sie einem schlanken Jüngling gleicht, um nach drei Minuten zu einer sehr schönen Frau entkleidet worden zu sein. Der travestiehafte Unterschied zu Siegels Vorschlag sprang ins Auge: Hier sein Flehen, noch einmal gewinnen zu dürfen, dort ihr luftiges, aber gut verhülltes Buhlen um eben dies: Punkte, nichts als Punkte. Das war offenkundig so überzeugend, dass es für sie etliche Male zwölf Punkte gab, unter anderem aus Deutschland. Marie N, wie sie sich außerhalb ihres Landes nennen lässt, hat gewonnen, weil sie – wie alle Grand-Prix-Gewinner zuvor – ihre Sache am leichtesten aussehen ließ und doch eiserne Entschlossenheit ausstrahlte: Ich will, wenn ihr auch mich wollt – nämlich gewinnen.

Auf der Pressekonferenz sagte sie denn auch schöne, unsinnige Dinge, die man so sagt, wenn eigentlich gar nichts zu sagen ist, außer in etwa: Ich gehe mit der größten Beute aus diesem Abend hervor. Doch auf die Frage, woran es denn liegt, dass die Deutschen immer hoch favorisiert sind und doch nicht gut platziert werden, wurde sie freundlich-bestimmt sehr präzise: „Ach, ich würde sagen, dass die Wetten gar nichts bedeuten. Die Deutschen sollten nicht so viel über sich nachdenken. Nicht über sich und nicht über Ralph Siegel.“ Sondern, ein bisschen Selbstlob ist ja immer erlaubt, „einfach einen guten Song schreiben“, ein schlichtes, gutes, freundliches Poplied also, das um nichts als das gewöhnliche Leben geht, also um Liebe und die Hoffnung, sie zu spüren, beziehungsweise um den Kummern, den sie bewirken kann. Eine Rezeptur, die übrigens auch die hartnäckigste Konkurrenten von Marie N, Ira Losco aus Malta, sich zu Eigen gemacht hat. Ihr „7th Wonder“ war charmant und mit flirtendem Blick in die Kamera vorgetragen: Knapp verpasste die Mittelmeerinsel ihren ersten Sieg.

Auffällig, dass auf den ersten fünf Plätzen nur schöne Frauen landeten, auf dem dritten die für Estland startende Sahlene, auf dem vierten die Britin Jessica Garlick und gleich dahinter die Französin Sandrine François: Kleine Perlen des Pop, nicht mehr und nicht weniger.

Ein konzeptionell überfrachtetes Lied, das etwas Balladig-Musicalhaftes hat

Was an den anderen auffiel, war noch dies, vor allem bei der Dänin Malene weckte es Mitgefühl: Sie schien große Angst zu haben, vor einem solch großen Publikum zu stehen. Guckte kaum in die Kamera und wenn, dann signalisierte ihr Blick: Entschuldigung. Auch in dieser Hinsicht waren Marie N und Ira Losco besser: Sie genossen sich – und zeigten es auch.

Alles in allem war es ein Eurovisionsjahrgang, bei dem Komponisten und Arrangeure, die ihr Handwerk noch klassisch gelernt haben, aber dennoch mit Elvis und den Beatles aufwuchsen, zeigten, dass all diese Oldies nicht mehr zum Pop fähig sind. Alles eine Spur zu sinfonisch und vordergründig bombastisch – wie auch bei den Schwedinnen des Trios Afro-Dite. Die vorne platzierten Chansons haben – außer bei Frankreich Patrick Bruel – junge Komponisten und Texter. Sie mögen Lounges und Bars, scheuen Easy Listening nicht und sind jedwedem Rock eher skeptisch gegenüber. Und sie bedienen sich samplend, wo es geht: So kam der Latinosound nach Lettland und wieder zurück.

Ralph Siegel ist ein freundlicher Mann, der, frisch verliebt, seinen Zenit erkannte: Dass er ihn längst hinter sich hat nämlich. Er schwor, nicht mehr wiederzukommen, nicht noch einmal die ganze Mühe, das Schicksalhafte der Arbeit hinter Klavier- und Mischpulten. Früher hat er seinen Abschied auch stets angekündigt, aber dann hat er immer geweint, sehr geweint sogar und in seinem Zorn die Welt für ungerecht gehalten, weil sie ihn nicht verstünde.

Ralph Siegel hat nicht geweint in der Nacht danach, sondern tapfer, ja locker die Niederlage hingenommen. Er scheint wirklich von der Droge Grand Prix lassen zu wollen. Corinna May sagte hauptsächlich diesen Satz: „Ich hoffe, dass der Druck jetzt weg ist und mir der Platz nicht übel genommen wird.“ Sie hat ihr Bestes gegeben – aber Frauen wie Maria N waren einfach besser. Deren Schlusswort: „Es war kein Druck. Es war ein großer Spaß.“