: Kann nicht weg
Sachen lieben, Sachen suchen und Sachen finden: Imma Harms und Thomas Winkelkottes Dokumentarfilm „Die Passage – 12 Geschichten von Müll und Wert“
Jemand buddelt in der Erde, im Müll längst vergangener Zeiten, er findet ein undefinierbares Stück und bewegt es abwägend in der Hand. Wir sind bei den Archäologen, den Profis der Sachensucherei. Wie sie betastet und festgehalten und umklammert und geprüft werden, die Gegenstände, das zeigt ein Dokumentarfilm von Imma Harms und Thomas Winkelkotte.
Die beiden haben in Zusammenarbeit mit der aktivistischen Medienwerkstatt autofocus für einen Arte-Themenabend einen Beitrag zum Thema Müll und Wert produziert und aus dem Material auch einen Dokumentarfilm mit dem Titel „Die Passage“ geschnitten, der in seiner Freiheit von erklärendem und voraus interpretierendem Kommentarton und mit der trockenen Montage, die sich nach einzelnen Kapiteln mit Zwischentitelüberschriften anordnet, über den Fernsehbeitrag weit hinausgeht.
Ein Zwischentitel: Herr Tunc baut seinen Laden auf. Spiegel in barock goldenen Plastikrahmen. Hirschköpfe mit Geweih aus mittelbraunem Kunststoff, tolle Plüsch-Kinderstühle mit lustigen Lehnen, Plastikpalmen und Girlanden, Jesus-mit-Lamm-Bilder, Plüschkissen und ein riesengroßer Fächer: Champion Galatasaray.
Niemand wird interviewt, allein die Sachen sehen uns an.
Nächstes Kapitel: Eine alte Frau geht ins Altersheim. Kisten packen, ein leicht genervter Verwandter unterstützt die Dame. Schnell schon braut sich zusammen, wie dramatisch und aufgeladen die Entscheidung sein kann, ob sie ihr Kaffeeservice mitnimmt ins Altersheim oder nicht. „So viel Blumen wirst du gar nicht mehr in deinem Leben haben, dass du so viel Teller als Blumenuntersetzer brauchst.“
Da ist er, der Tod, der sich grinsend den Dingen anschmiegt. Und die Sparsamkeit und Scheu, etwas wegzuwerfen, die noch mit den Mangelzeiten der vorigen Generationen zu tun haben. All das, was die Dinge ausdrücken und als Platzhalter dienen lässt für Geschichten, die schon halb vergessen sind, möchte respektiert werden. Manche Menschen haben für ihre Sentimentalität Formen gefunden, unglaubliche Ordnungssysteme, die sie durch immer neue Katalogisierungen erweitern, andere geben sich vor dem wuchernden Kleben der Gegenstände geschlagen und werden Messies – und wieder andere sind radikale Wegwerfer und Geschichtsschredderer.
Sehr schnell stellt sich im Film das Bewusstsein dafür ein, wie die Dinge selbst in ihrer absurdesten Form als Verweise und Projektionsflächen an den Übergängen vom Materiellen zum Immateriellen in unser Leben ragen, selbst wenn sie sich so gar nicht mehr als dingliche Zeitzeugen und Gegenstände einer historischen Epoche funktionalisieren lassen.
Ein Post-Fluxus-Künstler aus den Achtzigern erzählte einst, wie er, um sich zu entlasten, all die Gegenstände, die in Verknüpfung mit seiner Biografie so leuchtend fetischistisch aufgeladen waren, in einer Grube im Wald vergraben hat. Da wirkt es schon lakonischer, wenn der junge Mann im Film da einfach auf die Kiste schreibt: kann weg.
Bis in die Siebzigerjahre gab es im Westteil Berlins noch die Sperrmüllnächte, wo alle alles rausstellen konnten. Sie wurden dann abgeschafft, da sie, wie die Pressesprecherin der BSR anmerkt, in Großstädten mit Mietshausstruktur und wenig Stauraum nicht machbar seien und sich verheerend – im Sinne der Entropie – auswirkten, denn Müllverhalten habe auch viel mit sozialer Kontrolle zu tun, die es in der Großstadt nun mal weniger gebe.
Im Gegensatz zu „Les Glaneurs et la glaneuse“ von Agnes Varda, der die Ährenleserinnen von Millet als Ausgangspunkt nimmt und mit der DV-Kamera Episoden über das Aufsammeln von Nahrungsmitteln und damit Bilder von Akkumulation,Verschwendung und Umverteilung in einer industrialisierten Post-Agrar-Gesellschaft hortet, richtet „Die Passage“ die Aufmerksamkeit auf ein urbanes Berlin: auf das Kreuzberg der Sachen.
MADELEINE BERNSTORFF
„Die Passage – 12 Geschichten von Müll und Wert“. Regie: Imma Harms und Thomas Winkelkotte. Deutschland 2002, 70 Min. Im fsk und im Lichtblick-Kino
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