Antiterror-Kulturbeutel

In den USA sorgen sich die Bürger weniger wegen möglicher Terrorschläge als vielmehr wegen des schlechten Zustands ihrer Geheimdienste. Grüße von der Heimatfront (3)

Dass der Terroranschlag vom 11. September nicht der letzte gewesen sein wird, wissen sie alle

Es ist Mai, die Sonne scheint, und Herr Cheney hat gesagt, der nächste Terroranschlag könne jederzeit erfolgen. In einer Stunde, übermorgen, kurz vor Weihnachten oder in fünf Jahren. Herr Mueller, der Chef des FBI, weiß ganz sicher, dass demnächst Al-Qaida-Terroristen mit Bombengürteln in amerikanische Restaurants oder Apartmenthäuser marschieren werden. Oder die Freiheitsstatue sprengen. Oder sich in einem Flugzeug auf ein Atomkraftwerk stürzen. 25 Terrorverdächtige sollen in Häfen an der Ostküste von Containerschiffen gesprungen und in den Städten untergetaucht sein. Warum konnte man die Kerle genau zählen, aber nicht festsetzen?

Aber ich will heute keine defätistischen Fragen stellen, sondern als gute ausländische Mitbürgerin endlich meinen Beitrag zum „Krieg gegen den Terror“ leisten. Mein Zeitungshändler ist, Gott sei Dank, gut sortiert und verkauft neben der New York Times, der FAZ von letzter Woche und 37 Fitnessmagazinen auch das Handbuch „So schützen Sie Ihre Familie gegen Terrorismus“ für 3,99 Dollar. Das Titelbild zeigt einen Jugendlichen, der, vermummt mit einem Palästinensertuch, eine brennende amerikanische Fahne schwenkt.

Nach der ersten Lektüre stelle ich fest: Ich bin überlebenstechnisch völlig unterversorgt. Ich weiß weder, wie man aus einer Mülltüte ein Notzelt baut, noch bin ich im Besitz von wasserfesten Nato-Streichhölzern. Das Büchlein empfiehlt, schnellstens ein „Survival-Kit“ zu packen, den ich ständig bei mir tragen soll. (Wie heißt das wohl auf Deutsch? „Überlebensköfferchen“? „Antiterror-Kulturbeutel“?)

Ich brauche zwei Rasierklingen, besagte Nato-Streichhölzer (woher kriegen?), Kompass, zwei Quadratmeter Alufolie, Wasserreinigungstabletten, zwei Kondome, nicht befeuchtet (zur Wasseraufbewahrung!), Cipro-Tabletten gegen Anthrax, Nylonschnur, Mundschutzmaske, Sicherheitsnadeln, 15 Meter Angelleine, ein Sortiment Angelhaken.

Wozu Angelhaken?

Zum Angeln, wozu sonst? Wenn nach der Anthrax-Attacke oder der nuklearen Kernschmelze im AKW die Supermärkte leer geplündert sind, kann ich mich laut „Survival Guide“ aus dem nächsten See oder dem Stadtteich ernähren. „Wenn Sie den Fisch gefangen haben, schlitzen Sie den Bauch auf, nehmen die Innereien raus, schneiden den Kopf ab und kochen ihn.“ Sollte ich dazu kein Messer haben (weil es nicht auf der Liste steht), kann ich mich auch von „proteinhaltigen Insekten“ ernähren. Dieser Information ist das Foto einer saftigen Heuschrecke beigestellt. Sollte mich die Vorstellung eines knackenden Heuschreckenpanzer im Mund zu sehr ekeln, was wahrscheinlich ist, gibt es immer noch nahrhaftes Grünzeug. „Unbekannte Pflanzen erst fünf Minuten kauen. Wenn es Ihnen und Ihrem Mund danach immer noch gut geht, schlucken Sie einen kleinen Bissen herunter. Wenn Sie nach acht Stunden keine körperliche Gegenreaktion spüren, können Sie eine Hand voll essen.“ Die acht Stunden bis zur Magenvergiftung kann ich laut „Survival Guide“ wiederum nutzen, indem ich „Nagetiere und Tauben“ erlege. Womit, ist nicht klar. Da stehe ich also mit meinem „Überlebensköfferchen“ in New York, am Horizont glüht die AKW-Ruine, und ich bastele mir aus Rasierklingen und einem Kondom (nicht befeuchtet) eine Steinschleuder, um radioaktiv verstrahlte Eichhörnchen zu jagen.

Ich fürchte, das wird nichts mit dem Überleben.

Sie müssen nicht denken, dass der „Survival Guide“ reißenden Absatz fände. Meine Nachbarn zeigen sich, wie die Amerikaner überhaupt, vom Alarmgeschrei in Washington unbeeindruckt. Dass der Terroranschlag vom 11. September nicht der letzte gewesen sein wird, wissen sie alle. Momentan interessieren sich die Leute mehr für den miserablen Zustand ihrer Geheim- und Nachrichtendienste, die im Englischen unter dem irreführenden Namen „intelligence community“ zusammengefasst sind.

Wir wissen ja inzwischen, dass ein FBI-Agent in Phoenix, Arizona, am 5. Juli 2001 das Washingtoner Hauptquartier über mehrere arabische Studenten an amerikanischen Flugschulen informierte und darauf hinwies, dass al-Qaida womöglich Terroristen zu Piloten ausbilden lasse. In Washington legte man den Bericht in die Ablage „Nicht so dringend“. Wir wissen auch, dass am 13. August 2001 ein Fluglehrer in Minnesota das FBI anrief, weil ein gewisser Zacarias Moussaoui, der womöglich als Massen- und Selbstmordpilot für den 11. September eingeplant war, in seiner Schule das Steuern großer Passagiermaschinen lernen wollte, nicht aber das Starten oder Landen. Moussaoui wurde wegen Verstoßes gegen Visumbestimmungen festgenommen, doch das FBI in Washington verweigerte die Genehmigung, seine Computerfiles zu untersuchen. Und wir wissen, dass am 21. August zwei der späteren Flugzeugentführer legal in die USA einreisten, obwohl sie wegen des Verdachts, am Anschlag auf die USS Cole im Jemen beteiligt gewesen zu sein, auf einer „Terror Watch List“ standen.

Zum Überleben braucht man zwei Rasierklingen, Nato-Streichhölzer (woher?), Angelhaken

Wissen, wissen, wissen – nachher ist man immer schlauer. Aber Hillary Clinton, Senatorin aus dem Bundesstaat New York, erinnerte kürzlich daran, dass sich das US-Justizministerium im Sommer 2001 schlau genug wähnte, um seine Mitarbeiter vor Reisen mit privaten Fluggesellschaften zu warnen. Die Demokraten wollen die Intelligenz der so genannten „intelligence community“ nun durch einen unabhängigen Ausschuss untersuchen lassen, was am Image der Bush-Administration kratzen könnte – und das kurz vor den Kongresswahlen im November. Dabei hatte das Weiße Haus Anfang Januar die Parole ausgegeben, dass der Carte-Blanche-Krieg gegen den Terrorismus bis auf weiteres alle Wahlsiege garantiere. Und jetzt bröckelt plötzlich die Heimatfront.

Zuletzt hat nun der eigentliche Star des Kabinetts, Rummy Rumsfeld, versucht, die Nation wieder in Habt-Acht-Stellung zu schocken. Es sei „unvermeidbar“, sagte er letzten Dienstag, dass Terroristen in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kämen. Die New York Times ließ sich postwendend von einem russischen Nuklearphysiker ausrechnen, dass man nur eine Teetasse voller Cäsium 137 braucht, um Disneyland zu verseuchen. Darüber könnte man fast Indien und Pakistan vergessen, die dieser Tage mit dem Finger am atomaren Abzug herumspielen, aber – und das ist die Hauptsache – im „Krieg gegen den Terrorismus“ auf unserer Seite stehen. Oder Russland, unser neuer Freund, mit seinen rund 15.000 nuklearen Sprengköpfen und seinem wackligen Frühwarnsystem, das zuletzt im Januar 1995 eine norwegische Forschungsrakete als amerikanischen Angriff interpretierte. Oder die USA, „God’s own country“, dessen Verteidigungsministerium kleine, nukleare Präventivschläge nicht mehr ausschließen möchte.

Ab sofort läuft in den amerikanischen Kinos „The Sum Of All Fears“, die Verfilmung eines Buches von Tom Clancy. Darin zünden Neonazis über Baltimore eine Atombombe, die sie aus dem Arsenal Israels ergattert haben. Das ist doch wenigstens mal ein origineller Plot. ANDREA BÖHM