Willkommen im Leben

Kurz vor ihrem Parteitag am Sonntag entdeckt die SPD, dass Politik mehr ist als Pragmatismus – und redet wieder von sozialer Gerechtigkeit. Das wird nicht reichen

Die SPD kann sich an Stoibers Sloganhalten: Kantig, echt, erfolgreich – so muss die Partei sein

Was soll man zu einer Partei sagen, die vier Monate vor der Bundestagswahl so langsam zum Leben erweckt wird? Guten Morgen, schön, dass ihr auch schon aufgewacht seid? Oder lieber gleich Gute Nacht, schlaft ruhig weiter, jetzt braucht ihr auch nicht mehr aufzustehen?

Vielleicht doch erst mal Guten Morgen, SPD! Es kann ja nicht verkehrt sein, wenn eine große, traditionsreiche Partei am Anfang des 21. Jahrhunderts erkennt, dass Politik mehr ist als Pragmatismus und Konsens und es zu einem Wahlsieg mehr braucht als nur einen mediengewandten Kanzler. Diese Erkenntnis kommt für die SPD möglicherweise zu spät, aber richtig ist sie trotzdem. Kurz vor ihrem Parteitag haben die Sozialdemokraten ihre Wahlstrategie korrigiert. Gerhard Schröder will jetzt nicht mehr nur allein gegen Edmund Stoiber kämpfen. Er hat seine Partei wiederentdeckt, mit der FDP einen neuen Gegner gefunden und mit der sozialen Gerechtigkeit in Zeiten der Globalisierung das neue sozialdemokratische Großthema ausgerufen.

Diesen Kurswechsel erklärt die SPD-Führung zu einer von Anfang an geplanten Etappe ihres Wahlkampfes. Das ist eine Ausrede, um nicht zu sagen eine Lüge – eine, die aus der Angst geboren ist. Die Spitzengenossen fürchten sich vor einem Blick zurück, weil er ihnen zeigen würde, wo ihre Fehler, Schwächen und Versäumnisse liegen.

Der Kanzler und, im wahrsten Sinne des Wortes, seine Partei haben unterschätzt, wie schnell nach dem kurzen Zeitalter der neuen Mitte in Europa die harte Politik zurückgekehrt ist. Wachsende Arbeitslosigkeit, der soziale Druck durch die Einwanderung in den multikulturellen Gesellschaften, Europa und der Bedeutungsverlust nationaler Institutionen, die Folgen der Globalisierung – viele Bürger reagieren darauf mit Verunsicherung und Angst. Die Politiker, nicht zuletzt in den linken Parteien Europas, auch die Sozialdemokraten, haben geglaubt, darauf mit der Leidenschaft eines Verwaltungsangestellten der Routine AG reagieren zu können. Sie haben die Wähler ruhig gestellt – anstatt sie ernst zu nehmen und herauszufordern. Jetzt explodieren die Verhältnisse.

Nicht etwa die Einsicht in die eigenen Versäumnisse haben Schröder und die SPD zu der Erkenntnis geführt, dass Politik wieder ernsthaft und grundsätzlich sein muss und nach klaren Botschaften verlangt. Es waren vor allem die Erfolge der Rechtspopulisten in Europa und das pubertäre Gehabe der Spaßpartei FDP, das urplötzlich in bitteren Ernst umgeschlagen ist. Dazu kam die Verzweiflung der Genossen über ihre eigene fehlgeschlagene Wahlkampfstrategie. Stoiber weigert sich bis heute beharrlich, den genialen Vorgaben der SPD-Kampa zu folgen und einen fleißigen, aber dennoch irgendwie bescheuerten Wiedergänger von Franz Josef Strauß zu geben.

Die SPD muss jetzt erst mal beweisen, dass sie überhaupt noch in der Lage ist, die Politik zu machen, die sie gerade wiederentdeckt. Genau das ist der Punkt, an dem man dann doch überlegt, der Partei lieber ein Gute Nacht! zuzurufen.

Für die SPD-Strategen ist die Sache natürlich klar. Sie ziehen durchs Land und verkünden, die Partei habe jetzt begriffen, dass es bei der Wahl um eine Richtungsentscheidung geht. Sie sei bereit zu kämpfen. Man muss sich fragen, wozu die SPD noch alles im Stande ist, wenn sie diese Einsicht schon für eine intellektuelle Spitzenleistung hält. Die neue Leidenschaft, die in der Partei ausgebrochen sein soll, beruht nur auf Autosuggestion.

Ihre Einsichten verdankt die SPD allein einer Kurskorrektur von oben. Schröder hat seine Partei erst wieder entdeckt, als sein Wahlsieg in Gefahr geriet. Das zeigt, wie ausgeprägt der Machtinstinkt des Kanzlers ist und wie sehr die SPD davon abhängig ist. Die neue Lust auf Politik, der kontroverse Steit ums Grundsätzliche, eine Richtungsentscheidung, bei der bis heute noch nicht einmal klar ist, um welche unterschiedlichen Richtungen der gesellschaftlichen Modernisierung es SPD und CDU genau geht – das erfordert auch eine Emanzipation der Sozialdemokraten von ihrem Kanzler. Aber wie soll eine müde, programmatisch ausgelaugte und von Selbstzweifeln zerfressene Partei auf Knopfdruck wieder zu sich selbst zurückfinden?

Ausgerechnet in dieser Situation veranstaltet die SPD am Sonntag den kürzesten Parteitag ihrer Geschichte. Ganze fünf Stunden wird er dauern und das Wahlprogramm verabschieden. Einziger Hauptredner: der Kanzler. So viel zur Lage der ruhmreichen Sozaldemokratischen Partei Deutschlands.

Die Partei wird sich vielleicht noch einmal zusammenreißen können und die Wahlen am Ende doch noch gewinnen. Aber was dann? Wenn Schröders Kurswechsel nicht nur ein taktisches Manöver mit Blick auf den 22. September ist, muss er ohnehin mehr machen, als nur die SPD-Stammwähler zu mobilisieren. Er muss ernsthafte Schlussfolgerungen für seine Politik ziehen. Und das heißt alles andere, als jetzt einfach den Lafontaine zu geben und wieder die alten traditionslinken Konzepte aus der Schublade zu kramen. Schröder muss vielmehr, wie der Soziologe Heinz Bude unlängst schrieb, „eine sozialdemokratische Erzählung entwerfen, die an unsere Gegenwart heranführt“.

Wenn die Warnung des Kanzlers vor einer Renationalisierung Europas mehr ist als Stimmungsmache, dann muss er erklären, wie seine Europapolitik aussieht, die über Protektion der nationalen Industrien und Ausfälle gegen das „allmächtige Brüssel“ hinausgeht.

Die neue Leidenschaft, die in der Partei ausgebrochen sein soll, beruht nur auf Autosuggestion

Wenn Schröder den Rechtspopulisten das Wasser abgraben will, dann gehört dazu auch, die zentralen Probleme nicht länger zu verschweigen, sondern den Wählern offen zu sagen, wie die wichtigen Reformen der nächsten Legislaturperiode aussehen sollen. Eine Arbeitsmarktreform ohne soziale Einschnitte? Eine Bundeswehrreform ohne Abschaffung der Wehrpflicht? Energieverbrauch teurer machen wollen, aber die Ökosteuer auslaufen lassen? Noch eine Gesundheitsreform, die nur so tut, als ob sie die mächtigen Ärzteverbände und Pharmalobbyisten in Ruhe lässt? Die SPD wird den Bürgern bittere Wahrheiten nicht ersparen können.

Wenn Schröder die FDP wirklich auf dem Weg der Haiderisierung sieht, dann muss die SPD ein Zeichen setzen und noch auf ihrem Parteitag eine Koalition mit den Liberalen nach der Bundestagswahl ausschließen. Wenn dann also, neben der ungeliebten großen Koalition, nur noch Rot-Grün als Option für die SPD bleibt, dann müssen die Sozialdemokraten endlich klar machen, worin die Zukunftsaufgabe der kommenden vier Jahre besteht, die nur SPD und Grüne gemeinsam lösen können. Vielleicht könnte so die Koalition, die 1998 verspätet und nur „zufällig“ geboren wurde, doch noch zum Vollstrecker der ursprünglich gewollten ökologisch-sozialen Wende werden.

Schröder und die SPD müssen sich nur in den versprochenen Richtungskampf stürzen. Sie können sich dabei sogar an Stoibers Slogan halten. Kantig, echt, erfolgreich – so müssen sie sein.

JENS KÖNIG