„Fußball hält das Volk zusammen“

Winfried Schäfer, 52, ist seit neun Monaten Trainer der Fußball-Nationalmannschaft Kameruns – und könnte bei der WM zum Stolperstein für Deutschland werden

Interview FRANK KETTERER

taz: Herr Schäfer, wie wünschen Sie angesprochen zu werden?

Winfried Schäfer: Bitte? Wie meinen Sie das?

Nun ja, in manchen Zeitungen hierzulande kommt es so rüber, als seien Sie bereits der König von Kamerun.

König von Kamerun ist doch Quatsch. Da passt das mit dem König der Löwen schon eher, wegen meiner Löwenmähne. Ansonsten bin ich für meine Spieler eher so etwas wie eine Vaterfigur, der große Bruder vielleicht. Aber das war ja schon immer eine meiner Stärken: dass ich mich als Trainer immer auch als Teil der Mannschaft verstanden habe. Auch in Kamerun versuche ich, meine Spieler in die Verantwortung zu nehmen und ihnen zuzuhören. Ich bin also weder Dompteur noch Diktator; das brauche ich auch gar nicht zu sein, weil die Jungs alle schwer in Ordnung sind.

Immerhin den Orden des Löwen hat Ihnen Staatspräsident Biya für den Gewinn des Afrika-Cups im März bereits ans Revers geheftet. In Kamerun ist das eine ziemlich hohe Auszeichnung.

Da bin ich auch stolz drauf. Wenn man vom Staatspräsidenten eingeladen wird, muss man schon etwas geleistet haben. Sonst schafft man das nicht, schon gar nicht in so kurzer Zeit. Und wenn man weiß, wie stolz dieses Volk auf seinen Fußball ist, dann ist das für mich eine noch viel größere und tollere Sache.

Können Sie als Ordensträger wenigstens schon die kamerunische Nationalhymne mitschmettern?

Leider noch nicht. Der Sportminister hat mir zwar schon vor zwei Monaten versprochen, dass er mir den französischen Originaltext besorgt, aber ich warte bis heute darauf.

Oh je. Was machen Sie dann, wenn die Spieler in der Kabine plötzlich wieder aufstehen und mit der Hand auf dem Herzen beginnen, die Hymne zu singen, so wie sie das bei Ihrer Vorstellung getan haben?

Dann freue ich mich. Denn wenn die Spieler die Hymne singen, dann ist das nicht nur ein so runtergeträllertes Lied, sondern sehr ergreifend.

Wie muss man sich das vorstellen?

Einer stimmt an und die anderen singen mit, zum Teil sogar mehrstimmig. Die kamerunische Hymne ist ja auch ein wirklich schönes Lied, das ein bisschen klingt wie die französische, nur dass bei Kamerun noch so eine Art Kanon eingebaut ist. Wenn man die Jungs beobachtet, wie sie das mit geschlossenen Augen und voll Inbrunst singen, dann macht die Arbeit noch mehr Spaß.

In Ihrer Antrittsrede sollen Sie den Spielern gesagt haben: „Wenn eine Mannschaft erster afrikanischer Weltmeister wird, dann seid ihr es.“ Ein typischer Schäfer-Spruch – oder glauben Sie das wirklich?

Ganz so habe ich das ja gar nicht gesagt.

Sondern?

Ich habe der Mannschaft erzählt, dass Pelé vor ein paar Monaten gesagt hat, es sei an der Zeit, dass eine afrikanische Mannschaft einen großen Erfolg bei einer WM hat. Es war da gar nicht vom Titel die Rede, sondern einfach nur von Erfolg. Und ich habe meiner Mannschaft weiter gesagt: Bevor das Nigeria, Senegal, Südafrika oder Tunesien wird, seid ihr das. Ich wollte der Mannschaft damit einfach zeigen, dass ich großes Vertrauen in ihr Können habe, in ihre Technik und Athletik, und dass sie damit viel erreichen kann. Wenn, und das ist ganz wichtig, wenn wir Disziplin reinbringen. Taktische Disziplin – und Respekt voreinander.

Auf jeden Fall gesagt haben Sie: „Fußball spielen können die alle.“ Was ist dann noch Ihr Job?

Taktisch zu arbeiten. Ich habe dafür zu sorgen, dass nicht alle nach vorne rennen und hinten Tag der offenen Tür ist. Dass die Spieler die Technik und die Inspiration, die sie haben, auch sinnvoll nutzen und einsetzen. Und ich glaube, die Mannschaft hat das schon ganz gut begriffen, wie man beim Afrika-Cup gesehen hat, den wir ohne Gegentor gewonnen haben. Und das, obwohl wir guten und offensiven Fußball gespielt haben.

Im Vorfeld der WM sind Sie vornehmlich auf Reisen in den europäischen Ligen gewesen, wo Ihre Spieler allesamt ihr Geld verdienen. Das klingt ein bisschen nach Handlungsreisender in Sachen Fußball.

Das trifft es ziemlich genau. Und es macht mir unglaublich viel Spaß. Außerdem muss ich doch schauen, wie es meinen Spielern geht. Ich muss ihnen doch das Gefühl geben, dass ich mich um sie kümmere und für sie da bin. Dass ich ihnen helfe, wenn sie Hilfe brauchen.

Sie haben ein Apartment in Jaundé. Wie oft seit Ihrem Amtsantritt waren Sie dort?

Fünf- bis sechsmal, jeweils ein bis zwei Wochen.

Und trotzdem sind Sie in Kamerun ein berühmter Mann – obwohl Sie bis September in Afrika noch kaum jemand gekannt hat. Fußball kann ganz schön verrückt sein, oder?

Klar kann er das. Wobei es durchaus so war, dass die Menschen in Kamerun am Anfang gar nicht unbedingt gejubelt haben, als ein Deutscher Trainer wurde. Die wollten lieber einen Franzosen, schon wegen der Sprache. In Kamerun wird ja Französisch gesprochen und auch die Presse ist französisch. Einen Deutschen als Trainer durchzudrücken war auch für die Leute, die mich eingestellt haben, ein ziemliches Risiko. Mittlerweile hat sich das aber geändert. Mittlerweile wollen alle einen deutschen Trainer haben, nicht nur in Kamerun, sondern in ganz Afrika.

Was bedeutet Fußball in Kamerun? Welchen Stellenwert besitzt er?

Das kann man nicht erklären. Nach dem 2:2 in unserem Testspiel gegen Argentinien sind die Leute auf die Straße gegangen und haben getanzt. Fußball hält das Volk zusammen, ganz egal was für Probleme und Sorgen sie sonst haben. Das ist eine riesige Euphorie.

Und es klingt nach höchsten Erwartungen. Was müssen Sie und Ihre Mannschaft bei der WM mindestens erreichen?

Natürlich wollen die Menschen in Kamerun Weltmeister werden. Aber das will auch der Trainer von Irland, zumindest hat er das gesagt. Fußball hängt aber von so vielen Faktoren und Kleinigkeiten ab, manchmal von der Höhe des Rasens. Wir müssen bei der WM einfach alles dafür tun, damit unser Volk stolz auf uns ist.

So wie vor zwölf Jahren, als Kamerun ins Viertelfinale kam.

Ja. Die 90er-Mannschaft von Roger Milla hat ein bisschen die Messlatte gelegt, die heute noch gilt. Und da wollen auch wir hin: dass die Songs und Geremis und M’bomas so berühmt werden wie damals Milla und seine Jungs.

Was bedeutet …

… dass wir in die Nähe des Halbfinals kommen müssen. Alles andere ist sowieso Glückssache.

Herr Schäfer, Berti Vogts hat schon vor ein paar Jahren prophezeit, dass die Zukunft des Fußballs schwarz sei. Damals, 1996, war Nigeria gerade Olympiasieger geworden. Bei einer WM ließ der ganz große Durchbruch einer afrikanischen Mannschaft bisher aber auf sich warten. Zu mehr als dem Viertelfinale, 1990 eben durch Kamerun und Milla, hat es noch nicht gereicht. Warum ist das so?

Weil Mannschaften wie Nigeria es nicht fertig bringen, ihren Spieltrieb zu zügeln. Der ist zwar gerade bei afrikanischen Mannschaften durchaus wichtig für ihren Fußball, aber man muss auch einmal auf Ergebnis gehen können. Nigeria zum Beispiel aber kann das nicht.

Und Ihre Mannschaft?

Die kann das.

Beim diesjährigen Afrika-Cup konnte man beobachten, dass sich die meisten afrikanischen Teams mittlerweile als Sicherheitsfußballer versuchen. Nach dem Motto „Hinten dicht machen und nach vorne hilft der liebe Gott“. Ist das die Reaktion auf Zeiten, in denen man, wie zum Beispiel Nigeria, in Schönheit starb, weil man all zu unbekümmert und naiv nach vorne spielte – und so entscheidenden Spiele im Hurrastil prompt verlor?

So defensiv, wie das hierzulande dargestellt wurde, war das beim Afrika-Cup gar nicht. Außer wenn die anderen Mannschaften gegen uns gespielt haben. Kamerun ist ja so etwas wie das Bayern München Afrikas, da spielt jede Mannschaft defensiv. So wie in der Bundesliga ja auch alle gegen die Bayern defensiv spielen – außer früher der KSC. Untereinander aber wurde kräftig gestürmt. Auf der anderen Seite ist es durchaus so, dass die afrikanischen Abwehrspieler sehr, sehr gut sind und wahnsinnig gut antizipieren können. Da musst du erst mal ein Tor machen.

Dann stimmt es also gar nicht, dass Afrika der Weltspitze schon wieder hinterherhinkt, weil beispielsweise Frankreich, Brasilien und Argentinien längst abgekommen sind vom Defensivgekicke?

Nein, das stimmt nicht.

Freiburgs Trainer Volker Finke hat beim Afrika-Cup aber festgestellt, dass Afrika …

… wieder zwanzig Jahre zu spät sei. Aber dann ist er selbst 25 Jahre hintendran. Wer so etwas sagt, hat erstens keinen Respekt vor den afrikanischen Ländern, zweitens ist er schlecht informiert, und drittens hat er ja selbst zwei Afrikaner in der Mannschaft. Warum kauft er die, wenn die zwanzig Jahre hinter der Bundesliga herhinken? Nee, nee. Was Finke da macht, ist typisch deutsch: Wir können alles und die anderen müssen von uns lernen. Deshalb hat der deutsche Fußball ja solche Probleme.

Von Ihrer Mannschaft heißt es, sie vereine die Disziplin des europäischen Fußballs mit der Eleganz des afrikanischen.

Das stimmt. Die Jungs spielen ja alle in europäischen Topvereinen.

Es heißt aber auch, dass die Abwehr anfällig sei.

Das hat Paul Breitner gesagt: dass unsere Viererkette wackelig sei. Das Problem dabei ist, dass wir seit 1990 mit ’ner Dreierkette spielen. Das hat Breitner offensichtlich verschlafen. Unsere Dreierkette funktioniert übrigens sehr gut. Wir haben in elf Spielen ganze drei Gegentore bekommen. So schlecht kann unsere Abwehr also nicht sein.

Ein echtes Problem hingegen scheint, dass die afrikanischen Verbände es mit der Organisation nicht so haben. Gerade bei einem Turnier über vier Wochen ist das aber ein nicht unerheblicher Faktor. Auf welche Probleme sind Sie da bei Amtsantritt in Kamerun gestoßen?

Zunächst muss man mal sagen, dass die Leute versuchen, alles richtig zu machen. Nur sind sie in solchen Dingen eben nicht so geschult und haben auch nicht die Mittel. Dafür muss man Verständnis mitbringen. Man kann da nicht hingehen und sagen: So, ab sofort machen wir das wie in Deutschland. Das geht doch nicht. Das Umfeld muss genauso wachsen, wie der Fußball in Afrika wachsen musste. Das dauert eben seine Zeit.

Thomas Nkono, Ihr Assistenztrainer, war ganz begeistert, dass er bereits im April alle Termine für die Vorbereitung bis zur WM erfuhr. So viel Planung war er bisher nicht gewohnt.

Das ist richtig. Ich habe gleich bei meinem Amtsantritt mein Programm bis zum Afrika-Cup vorgestellt. Das hat nicht nur der Minister bekommen, sondern auch die Journalisten. Und nach dem Afrika-Cup habe ich das Programm bis nach der WM zusammengestellt.

Außerdem wurden gleich bei Ihrem ersten Trainingslager die WM-Prämien ausgehandelt. Auch das war in der Vergangenheit keine Selbstverständlichkeit.

Beim Olympiasieg in Sydney gab es noch in der Nacht vor dem Finale Verhandlungen über die Prämien. Ich habe gesagt, dass das so nicht geht, schon weil es in der Vergangenheit deswegen immer auch wieder Zank und Ärger gab. Bei einer WM kann ich das nicht brauchen.

Thomas Nkono war es auch, der behauptete, dass sich Kameruns Profis selten zuvor von einem Trainer so gut verstanden gefühlt hätten. Und das, obwohl Sie kein Französisch, nur ein paar Brocken Englisch und kaum eine der rund hundert Stammessprachen sprechen.

Auf Englisch verstehen wir uns schon. Außerdem ist es nicht wichtig, ob ich Französisch spreche oder perfekt Englisch. Ich habe denen klipp und klar gesagt, dass ich der falsche Mann bin, wenn sie einen Sprachlehrer suchen. Wenn sie aber einen Fußballlehrer brauchen, dann bin ich richtig. Damit war das Thema vom Tisch.

So einfach geht das?

Ich muss mit meinen Spielern ja nicht über die Weltpolitik diskutieren – und für den Fußball reicht mein Englisch, das können Sie mir glauben. Außerdem hatte Kamerun so viele perfekt Französisch sprechende Trainer – und trotzdem gab es mit denen Probleme.

Dafür fällt auf, dass Sie um Körperkontakt bemüht sind, etwa wenn Sie einen Spieler in den Arm nehmen oder ihm auf die Schulter klopfen. Ist das die Art, Nähe und Verbundenheit zu zeigen?

Natürlich. Die Spieler haben nach dem Gewinn des Afrika-Cups vor Freude in meinen Armen geweint. Wissen Sie, was das für ein Gefühl war?

Wenn man all das zusammenfasst, was man über Sie und Kamerun bisher gehört und gesehen hat, scheint es fast so, als hätten sich da zwei gesucht und gefunden.

Ja, das ist richtig. Ich bin dankbar, diesen Job machen zu dürfen.

Argentiniens Trainer Bielsa hat nach dem 1:0-Sieg über Deutschland einen Vergleich mit der Völler-Truppe gewagt und dabei festgestellt, dass körperlich beide Teams stark seien, Ihre Mannschaft aber mehr geniale und kreative Momente habe. Geben Sie ihm Recht?

Natürlich. Das ist doch klar. Meine Mannschaft macht manchmal Dinge, die sind sensationell.

Was würde passieren, wenn Kamerun Weltmeister wird?

Dann würde ich einen Stuhl gleich neben dem Präsidenten bekommen. Allerdings einen etwas kleineren.

Und dann würde man Sie wohl auch wieder in der Bundesliga sehen, wahlweise in Spanien oder Italien.

Nein, nein, nein. Ich will diesem Land etwas zurückgeben. Ich habe noch große Aufgaben vor mir.

Als da wären?

Ich will die Jugendarbeit fördern und nach vorne bringen, um das Ausbluten des Landes zu verhindern.

Davor müssen Sie mit Kamerun aber mindestens einmal gegen Deutschland spielen. Mit welchem Gefühl blicken Sie dieser letzten Vorrundenbegegnung entgegen?

Mit gar keinem. Für mich zählt das erste Spiel gegen Irland, alles andere ist im Moment unwichtig. Außer dass wir auch gegen Deutschland gewinnen müssen.

Und wenn die Hymnen gespielt werden, welche singen Sie dann mit?

Beide.

FRANK KETTERER, noch 35, ist Redakteur der taz-Leibesübungen und reist seit Freitag durch Japan, um von der Fußball-WM, dem Ausscheiden der deutschen Mannschaft und natürlich Winfried Schäfer zu berichten.