Die Wunde Palästina

Wider das dumpfe Gerede von den arabischen Massen. Tunesien kam durch den Anschlag auf die Synagoge in Djerba auch hierzulande in die Medien. In Gesprächen über Antisemitismus herrscht zwischen Deutschen und Tunesiern Unwohlsein

Die Angst der Studenten, dass mit zweierlei Maß gemessen wirdIdentifikation mit den Palästinensern heißt nicht Wunsch nach Beseitigung Israels

von RENATE FISSELER-SKANDRANI

Seit mehr als 15 Jahren unterrichte ich in Tunis Deutschstudierende über Geschichte und Gegenwart im deutschsprachigen Raum. Ich bin eine kulturelle Mittlerin, auch was das deutsche Verhältnis zu Israel betrifft. Dabei versuche ich, meinen StudentInnen klar zu machen, dass die durch Holocaust und millionenfachen Völkermord geprägte Geschichte Deutschlands eine besondere Verantwortung und Wachsamkeit gegenüber Rassismus, Antisemitismus und Intoleranz erforderlich macht. Doch diese Gespräche werden von einer von Mal zu Mal wachsenden Unsicherheit begleitet, einer Art Unwohlsein. Denn es existieren Ängste auf beiden Seiten: bei meinen Studenten und bei mir. Ängste, sich nicht richtig vermitteln zu können, nicht wirklich verstanden zu werden. Ängste auch davor, dass Verstehen bedeuten könnte, nur die Position des Gegenübers verstehen zu sollen, ohne selbst das gleiche Bemühen zu erfahren. Bei meinen Studenten spüre ich aber vor allem die Angst, dass mit zweierlei Maß gemessen wird.

Vor einiger Zeit lief im Goethe-Institut in Tunis die Filmreihe „Deutschland, gesehen von außen“. Gemeinsam mit dem zweiten und dritten Studienjahr schauten wir Godards Film „Neu(n) Null“ (1991) und Alain Resnais’ Dokumentarfilm „Nacht und Nebel“ (1955) über Auschwitz, zehn Jahre nach der Befreiung, an. Es waren Bilder, die manche Studenten zum allerersten Mal sahen und die sie sichtlich verstörten. In dem nachfolgenden Gespräch brachten einige ihr Entsetzen deutlich zum Ausdruck, fragten, wie es möglich sei, dass Menschen zu solchen Handlungen fähig seien, wie jegliche Menschlichkeit einfach ausgehebelt werden könne. Andere StudentInnen schwiegen eindringlich. Ich sprach sie später darauf an: Palästina, es war die „Wunde Palästina“, an die das Gesehene in ihnen rührte, was bei einigen eine Abwehrreaktion provozierte.

Direkte Betroffenheit, ja Identifikation mit den als nah verwandt empfundenen PalästinenserInnen und deren Erfahrungen von Vertreibung, Gewalt und bis zum heutigen Tag erlittener Ungerechtigkeit sind Teil des kollektiven Gedächtnisses in Tunesien wie in anderen arabischen Ländern: Die „Wunde Palästina“, das heißt der unbedingte Wunsch und die Forderung nach einem gerechten Existenzrecht für Palästina, werden auch gespeist aus eigenen, historisch noch sehr nahen Kolonialerfahrungen. Aber auch aus der Tatsache, dass viele PalästinenserInnen in arabischen Ländern im Exil leben.

Tunesien selbst hat nach der Vertreibung der palästinensischen Befreiungsorganisation aus dem Libanon 1982 das PLO-Hauptquartier aufgenommen; 1984 wurde es in Hammam Chott von israelischen Flugzeugen bombardiert; Arafat entkam nur knapp dem Anschlag; zwei ranghohe PLO-Vertreter wurden in Tunesien in den Achtzigerjahren vom israelischen Geheimdienst ermordet.

Wer immer die Berechtigung dieser direkten Betroffenheit der Tunesier durch Verweise auf die von palästinensischer Seite begangenen Gewalttaten und politischen Fehler und auf ihre Verantwortlichkeiten in Zweifel ziehen will, wird auf Granit beißen. Diese Identifikation mit der Sache der PalästinenserInnen darf man jedoch nicht automatisch mit dem Wunsch nach Beseitigung des Staats Israel gleichsetzen. Ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, dass genau an dieser Schnittstelle die Quelle zahlreicher Missverständnisse und des Nichtverstehens liegt.

In der Woche, als Israel mit der militärischen Besetzung der autonomen Gebiete begann, kam es landesweit an den tunesischen Universitäten und Schulen zu Solidaritätsstreiks und Demonstrationen, auf die von staatlicher Seite mit den bekannten Reflexen des gewaltsamen Niederhaltens und Unterdrückens reagiert wurde. Ich habe die StudentInnen bei ihrer ersten Demonstration durch ein quartier populaire begleitet. Es war eine verhaltene, eher stille Demonstration, sieht man vom Absingen eines Liedes aus dem tunesischen Befreiungskampf ab. Stattdessen erklangen mehrfach you-you-(Freuden-)Rufe von Frauen, die in den Hauseingängen standen und den Demonstrationszug auf diese Weise begrüßten.

Nicht der Verniedlichung oder gar dem Verleugnen von Tatsachen soll hier das Wort geredet werden, sondern der differenzierten Wahrnehmung! Es gibt in den arabischen Ländern gewaltbereite und Gewalt ausübende politisch-islamistische Gruppierungen. Der blutige Anschlag auf die Synagoge in Djerba ebenso wie zwei weitere Anschläge auf Synagogen zeugen von antisemitischen Tendenzen auch in Tunesien, das doch auf eine fast zwei Jahrtausende alte Tradition eines im Großen und Ganzen friedlichen Zusammenlebens von Menschen muslimischen und jüdischen Glaubens zurückblicken kann.

Seit dem 11. September ist es in manchen europäischen Medien und bei manchen politischen Kommentatoren fast schon zum Gemeinplatz geworden, Menschen in den arabischen Ländern zur „arabischen Straße“ zu erklären. Diese habe nach dem 11. September „Partys“ gefeiert, „Freudentänze“ veranstaltet und noch jedem palästinensischen Selbstmordattentäter applaudiert. Die Menschen der arabischen Ländern scheinen in solchen Sichtweisen nichts anderes als eine dumpfe, stets zu Wut- und Gewaltausbrüchen bereite, manipulierbare Massen zu sein, unzufrieden mit den herrschenden Verhältnissen im eigenen Land, unterdrückt von den eigenen, um ihre Macht fürchtenden Regierungen und deshalb idealer Nährboden für jegliche Art islamistischen Terror.

In Zeiten weltweiter Polarisierung, wo mehr und mehr auf militärische Konfliktlösungen und die altbekannte Ideologie des „Wer nicht mit uns ist, ist für die Terroristen“ gesetzt wird, wächst der Druck zur Gleichmacherei: Mögen sich einfache Weltbilder dann als besonders nützlich erweisen, zum Verstehen, geschweige denn zum Dialog und der Suche nach tragfähigen Lösungen, taugen sie nicht, außer dass sie deren Grundlagen zermalmen.

Wer schreibt schon darüber, dass es der ehemalige tunesische Präsident Bourguiba war, der sich als erster arabischer Staatschef bereits Mitte der Sechzigerjahre zur Anerkennung des Staats Israel bereit erklärte (und damit in der arabischen Welt auf heftige Kritik stieß), oder darüber, dass auch in Tunesien Unterschriftenaufrufe zirkulieren, die die entsetzlichen Anschläge auf jüdische Gotteshäuser mit ihren zahlreichen Opfern ohne jedes Wenn und Aber verurteilen und die tunesische Zivilgesellschaft zum Handeln und zur Wachsamkeit ermahnen. Wer hält die einfachen Fragen meiner tunesischen Schwiegereltern, zu deren Freunden schon immer jüdische TunesierInnen zählten, für erwähnenswert: „Warum machen die solche Anschläge? Wir haben doch immer gut zusammengelebt!“ Wer hört zu, wenn meine tunesischen KollegInnen, die sich in ihrer Tätigkeit als auch als kulturelle MittlerInnen und Teil eines umfassenden interkulturellen Dialogs begreifen, heute resigniert feststellen: „Eigentlich können wir nur noch schweigen!“

Die Autorin lebt und arbeitet seit Jahren in Tunis.