nebensachen aus tokio
: Was die Fußballweltmeisterschaft mit Lärmschutz zu tun hat

Die Sehnsucht nach einem neuen Japan

Gestern, am Samstag, packte uns nicht das Fussballfieber, sondern Taka. Er hatte zu einer Geburtstagsparty eingeladen. Taka, mit vollem Namen Takaaki Kaneda, ist 30, verheiratet mit Junko, seit sechs Monaten Vater von Iona und seit fünf Jahren auf dem Weg zum selbstständigen Unternehmer als Webdesigner. Sein Zopf, sein Bart und seine Vorliebe für Baggyhosen und Sandalen setzen ihn von den Krawattenträgern Tokios ab. Und Taka mögen wir ganz besonders für seine treffenden Bemerkungen, wenn es um die Zukunft seines Landes geht.

Die Fußballweltmeisterschaft ist für Japan nämlich ein Ereignis, das von Politikern gerne mit der Olympiade 1964 verglichen wird. Damals meldete sich das Land zurück als ernst zu nehmender Konkurrent in der Weltwirtschaft – der Beginn des asiatischen Aufstiegs, der sich in den folgenden vierzig Jahren entfaltete. Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit war geboren. So blicken viele ältere Japaner nach nun gut zwölf Jahren Stagnation mit Wehmut auf diese Glanzzeiten zurück und bemerken zum Auftakt der Fußball-WM, dass sie „Mühe haben, eine klare Botschaft über die Zukunft des Landes zu kommunizieren“, wie es Naohiro Yashiro, der Präsident des Japan Centre for Economic Research, formulierte.

Der Satz von Yashiro wurde zu einem heißen Diskussionspunkt auf Takas Geburtstagsparty. Irgendwann führte er uns auf seinen Balkon im 26. Stock des Hochhauses am Rande der Tokioter Bucht und zeigte auf die Stadtautobahn, die nur fünfzig Meter neben dem Bau vorbeiführt. Der Lärm ist selbst auf dieser Höhe noch ohrenbetäubend. „Die Zukunft für dieses Land? – streitet weniger um Details und denkt an das Wohl der Leute!“, rief Taka gestikulierend vom Balkon.

Er hatte uns zuvor über einen lächerlichen bürokratischen Streit um eine Lärmschutzwand für sein Zuhause erzählt. Die Stadtverwaltung von Tokio, Bauherrin des Hochhauses, und die Autobahnbetreiber, ebenfalls eine städtische Stelle, sind sich einig, dass eine Lärmschutzwand notwendig ist. Wer sie bezahlen soll, darüber können sie sich nach vier Jahren Streit bis heute nicht einigen. 600 Familien, die hier leben, sind die Leidtragenden. Taka, der im Hausrat für die Schutzwand mitkämpft, geht davon aus, dass der Streit noch mal fünf Jahre dauern dürfte.

Natürlich werden die Finanzlöcher in der Stadtkasse für die ewige Verschiebung angeführt. Aber Taka sieht noch einen anderen Grund. „Der Wolkenkratzer und die Autobahn sind die Symbole unseres Fortschrittsglaubens. Die Lärmschutzwand wäre nun die kleine Verbesserung, um die beiden Symbole so zusammenzubringen, dass die Lebensqualität der Leute verbessert würde.“ Dafür gibt es nun kein Geld mehr.

Später schalteten wir den Fernseher ein und sahen die erste Halbzeit im Spiel Deutschland gegen Saudi-Arabien. Taka konnte es sich nicht verkneifen, über den fahrbaren grünen Rasen, der mehr als 80 Millionen Euro gekostet hatte, eine spöttische Bemerkung fallen zu lassen: „Da wird übrigens gerade auf einem Feld gespielt, für das 50 Lärmschutzwände in Tokio gebaut werden könnten!“ANDRÉ KUNZ