Westliche Heilslehre für Tibet

betr.: „Tibet – geheimnisvolle Welt?“, taz vom 25. 5. 02

Nach dem Motto „One size fits all“ haben wir (die Europäer) schon immer gewusst, was gut und was richtig ist für diese Welt. Früher waren es die Missionare, die anderen Völkern unsere damalige Moral brachten, und es gab kein Widersprechen. Alle wurden missioniert im Glauben, dass nur das, was wir aus unserem Kuturkreis kennen, das einzig Richtige ist. Heute sind es unsere Linksintellektuellen, die genau wissen, was im „alten Tibet“ und in anderen Kulturen falsch gelaufen ist.

Verantwortlich für die tibetische Kultur der vergangenen Jahrhunderte ist natürlich der Dalai Lama, welcher im Alter von 19 Jahren vor den chinesischen Besatzungstruppen geflohen ist. Herr Goldner selbst glaubt offensichtlich an die Reinkarnation!

Dann müssen, nach Herrn Goldner, zum Beweis der Rückständigkeit der tibetischen Kultur, natürlich die ominösen, nicht näher belegten tantrischen Sexpraktiken herhalten, in denen Frauen aufs Schändlichste missbraucht werden, und die armen Kinder, welche, schon in jungem Alter, hinter Klostermauern verschwanden. Ist man aus einer Kultur kommend, in der die Leibeigenschaft nur vor relativ kurzer Zeit überwunden wurde, in der man die Folgen jahrhundertelanger Sklaverei noch heute spürt und in der Frauen noch keine 100 Jahre das Wahlrecht haben, derjenige oder diejenige, der/die sich über das Tibet von vor 50 oder 100 Jahren erheben sollte?

Wo bitte hätten die Tibeter in vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten ein besseres System als das ihre kennen gelernt? Etwa bei der deutschen Regierung vor 1945? Im Kaiserreich oder beim britischen Empire? Bei Herrn Stalin oder bei den großen Volksführern zum Beispiel in Nordkorea, China und Rumänien?

Aus der Sicht von heute lässt sich leicht über Tibet und die tibetische Kultur richten, vor allem dann, wenn man die eigene kulturelle Geschichte ausblendet und die modernen westlichen Heilslehren unserer Zeit einfach auf alles und alle überträgt, ob sie nun passen oder nicht. HERBERT RUSCHE, Frankfurt am Main

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